1.Das Miasma am Boden des Glases

So lange ich denken kann, wollte ich Schriftsteller werden. Wenn man sich die
Arbeitszeiten selber aussuchen kann, dann kann man eine Menge Unsinn
anfangen.
Ich hatte eine sechs- oder siebentägige Sauftour hinter mir. Als kontaktfreudiger
Mensch passieren einem innerhalb dieser sechs oder sieben Tage zu achtzig
Prozent gute und zu zehn Prozent schlechte Dinge. An die anderen zehn Prozent
erinnert man sich in der Regel nicht.
Neben der Couch auf der ich geschlafen hatte, stand die leere Flasche Wodka,
und ein noch halb volles Glas White-Russian stand auf dem Tisch.
Im Fernsehen lief seit Tagen der amerikanische Wahlkampf, und Barack Obama
erzählte der Welt mit rührenden Worten vom Tod seiner Großmutter.
Wenn man viel trinkt und wenig schläft, reagiert das Gehirn gereizter auf
Emotionen. Alkoholiker mit einer leichten Seele müssen demnach ein
gefundenes Fressen für demagogisch beschlagene Politiker sein. Jedenfalls hatte
ich so etwas gelesen, und so wurde ich unweigerlich an den Verlust der vielen
Verwandten erinnert, die ich im Laufe meines bis dato fünfundzwanzigjährigen
Lebens bereits erlitten hatte.
Ich kippte mir den Rest aus dem Glas auf dem Tisch in den Hals, und fummelte
die letzte Pall Mall aus dem Softpack.
Gegessen hatte ich seit zwei Tagen nichts. Wer genug trinkt macht sich
immerhin weniger Sorgen ums Kochen. Und so betrachtete ich die zerknitterte
Zigarette in meiner Hand, und beschloss das Frühstück sausen zu lassen.
Ich hatte vor etwa zwei Jahren mein Philosophiestudium abgebrochen, etwa
zeitgleich mit dem Tod meines Großvaters, und seit dieser Zeit war ich mehr
oder weniger arbeitslos. Ein halbes Jahr gammelte ich in einer Tischlerei herum,
weil der Staat seine Arbeitslosenzahlen mit Qualifizierungsmaßnahmen
fälschen muss, aber ich erzählte überall herum, dass ich eigentlich Schriftsteller
wäre. Ich meine mich zu erinnern, dass Henry Miller das auch eine ganze Weile
lang so gemacht hatte, bevor er dann Bücher in die Welt setzte, wie andere in
ihre Schüsseln schissen.
Na jedenfalls hatte ich jede Menge Zeit für Alkohol und Weiber, und wenn ich
Bilanz ziehe, na ja, Ihr könnt es Euch sich sicherlich denken…
Schwermütig erhob ich mich von der Couch und ging rüber ins Bad um zu
pissen. Die Alkoholpisse sieht morgens immer so widerlich gelbgrau aus, und
sie stinkt nach Verderben und Tod.
Ich spülte, wusch mir die Hände, betrachtete mich im Spiegel über dem
Waschbecken und fragte mich, wessen Augen mich da eigentlich ansahen. Eine
Rasur hatte ich auch nötig, aber ich verzichtete darauf, ich hatte ja ohnehin
nichts Großartiges vor. Wenn man sich sein ganzes Leben lang nicht rasiert,
erreicht der Bart eine Länge von neun Metern.

Somit beließ ich es dabei, mir etwas kaltes Wasser ins Gesicht zu plätschern,
mir die Zähne zu putzen, die Rotze hochzuziehen und ins Waschbecken zu
spucken- ich traf genau den Abfluss; manchmal hat man eben Glück.
Dann zog ich mich an und die Tür hinter mir zu.
Draußen klatschte mir der kalte Wind entgegen, also zog ich den viel zu kurzen
Schal den ich um den Hals trug enger, und beeilte mich auf dem Weg zum
Supermarkt.
Dort schlenderte ich einige Wodka-Khalur beflügelte Minuten gedankenverloren
durch die dank ständig steigender Preise, ständig uninteressanter werdenden,
regalgesäumten Gänge.
Ich räumte zwei 1,5 l Tüten Orangensaft aus einem Karton und füllte ihn statt
dessen mit zwei Flaschen Wodka, zwei Flaschen Khalur und zwei Tüten Milch.
An der Kasse räumte ich alles auf das Fließband. Dazu Tabak und Blättchen.
Es war nur eine Kundin vor mir an der Reihe. Eine ansehnliche Vierzigjährige,
die sich auf dreißig geschminkt hatte. Sie hatte etliches Obst, Joghurts, eine
Gurke und so was auf dem Band liegen und sah zweifelnd auf meinen Einkauf.
Ich zwinkerte ihr zu.
„Manche könnten wohl behaupten, dass Sie sich gesünder ernähren würden als
ich.“
Sie grinste leicht verunsichert.
„Ja.“ erwiderte sie anschließend geistreich.
Ich verfügte noch immer über einen gewissen Charme.
Ich zahlte und schaffte es raus.
Auf dem Weg nach Hause wollte mich ein Hund anspringen. Ein vierzig Kilo
Rottweiler. Ich wich dem Vierbeiner geschickt aus, er hechtete ins Leere und
rutschte auf dem nassen Herbstlaub fast weg.
„Nächstes mal Kumpel, nächstes mal.“ rief ich ihm euphorisch hinterher.
Er bellte.
Als ich zu Hause ankam, erzählte George W. gerade irgendetwas Sinnfreies. Ich
drehte den Ton ab, zog mich aus, mixte mir einen Drink und legte den Rest auf
Eis.
Es ist ein gefährliches Unterfangen, allein zu Hause zu sein, sich zu besaufen
und telefonieren zu können. Irgendwann kommt man immer auf dumme Ideen.
Ich hatte vom amerikanischen Wahlkampf die Schnauze voll und machte ein
paar Telefonate. Ich klärte eine Sache, bei der ich einen langjährigen Kumpel,
aus Schulzeiten versetzt hatte, weil ich lieber mit einer Frau im Bett war.
Und ich schickte eine fatale SMS an meine Ex- Freundin.
Dann schaltete ich den Fernseher ab und legte eine Pearl Jam CD ein. Eine
Weile hörte ich Eddie zu, wie er darüber sang, dass er noch immer am Leben
war, trank weiter, hörte Eddie darüber klagen, dass sich seine Welt in schwarz
verwandele, trank noch mehr, versuchte mich an einigen Gedichten, hörte Eddie
singen, dass es Evolution wäre, trank weiter, und verfiel langsam in eine
Melancholie, die sich aus Einsamkeit und der damit zwangsläufig
einhergehenden Langeweile zusammensetzte.

Man sollte meinen, dass es die Gnade des Dichters wäre, dass er vor solchen
Angriffen geschützt ist. Schließlich kann der Poet, wenn er gut ist, aus jedem
einzelnen Partikel eine Geschichte destillieren, und sei es, dass er auf fünf Seiten
beschreibt, wie ein gottverdammter Tisch aussieht. Aber all das nutzt leider
nichts, wenn keine rechte Motivation aufkommen mag.
Die Antwort auf die SMS an meine Ex- Freundin war verständlicherweise
niederschmetternd. Na, eigentlich sagte sie nur, dass sie unter diesen
Bedingungen nicht vorbei kommen würde; dabei hatte ich ihr lediglich einen
Orgasmus garantiert und auf eigene Ansprüche verzichtet.
Aber meine Wortwahl war, der eines eloquenten Dichters würdig und wohl zu
eindeutig ausgefallen.
Na, sei es drum, es gab noch mehr Frauen mit Telefonen, und wahre Dummheit
war ja, den gleichen Fehler mehrmals zu machen und ein anderes Ergebnis zu
erwarten.
Die nächsten Antworten waren ebenso abweisend, auch wenn sie mich
emotional nicht berührten.
Es blieb also nichts weiter zu tun, als die nächste Scheibe aufzulegen und den
nächsten Drink zu mixen.
„Loveboat Captain take the rain…“
Ich sah mit dem Glas in der Hand aus dem Fenster.
Draußen wehte der Müll über meinen Hinterhof. Der verfluchte Wind hatte die
Mülleimerdeckel hochgeschlagen und wehte nun allen möglichen Kram über
den Hinterhofasphalt. Na immerhin. Das bot mir die Möglichkeit anhand des
Abfalls meine Nachbarn zu analysieren. Ich kam zu erschreckenden
Ergebnissen, die durch Tetrapack Wein, Dönerpapier, leere
Zigarettenschachteln, Filterhülsen und etlichem mehr, gerechtfertigt waren.
Und dann irgendwann, als sich die schwere Bleischürze des Selbstmitleids zu
gewichtig über mich gebreitet hatte, und meine Gedanken wirrer und wirrer
wurden, fragte ich mich, ob es wohl möglich wäre, sich mit Paracetamol das
Leben zu nehmen.
Begeistert von diesem Gedanken verschickte ich die nächsten SMS an meine
besten Freunde, bei denen ich mich verabschiedete.
Dann rief ich Tom an. Tom war Heilpraktiker, und ich fragte ihn, wie viele
Tabletten man wohl brauchen würde.
Kurze Zeit später, es muss gegen 19.00 Uhr gewesen sein, klingelte es an der
Tür.
Na, endlich Besuch, dachte ich, oder das Arschloch von Nachbar, das sich mal
wieder über die zu laute Musik beschweren wollte.
Ich schaffte es zur Tür, und da standen zwei Bullen und zwei Sanitäter.
„Was zur Hölle ist denn jetzt los?“ brummte ich. „Sie können gerne
reinkommen und sich selbst überzeugen, die Musik ist keinen Dezibel zu laut.“
Dann sah ich die Sanitäter an. „Oder blutet mein Nachbar schon aus den
Ohren?“

„Wir haben eine Nachricht erhalten, dass sie einen Selbstmordversuch
unternehmen wollen.“ sagte Bulle Nr 1.
„Na klar, und vorher hab´ ich ein Attentat auf Barack Obama geplant. Könnt
ihr noch kurz warten bevor ihr mich hochnehmt, ich muss die Bombe noch
platzieren.“
„Ziehen Sie sich bitte an. Wir nehmen Sie mit.“ Bulle Nr.2
„Mit wohin?“
„Auf die Notfallstation.“
„N scheiß machen Sie! Ich hab gerade die Nudeln auf m Herd.Außerdem
kommen in ein paar Minuten zwei brasilianische Nutten vorbei.“
Wenn ich erst mal in Fahrt kam, konnte ich ausgezeichnet diskutieren und am
laufenden Band Unsinn erzählen.
„Wir können Sie auch zwingen, wenn Sie sich weigern.“
„Erzählen Sie keinen Scheiß. Ich war ein halbes Jahr Tischler, ich weiß wie
Zwingen aussehen.“
Bulle Nr.2 packte mich am Arm. Ich wusste wohl doch nicht wie Zwingen
aussahen.
„Hey!“ versuchte ich zu protestieren. Aber ich war zu betrunken und
angesichts seiner körperlichen Ausmaße zu klug um weiteren Widerstand zu
leisten.
Ich packte mir meine Jacke, blieb in Hausschuhen und ließ mich abführen. Auf
dem Flur erblickte ich Tom und Falco, einen anderen Bekannten, als sie mich
die Treppe runter schafften.
Ich stieg in den Krankenwagen, wo ich gebeten wurde mich auf die Bare zu
legen.
Mittlerweile war es mir egal. Immerhin passierte irgendetwas.
Sollten die jetzt die Arbeit verrichten.

2. Einer fliegt in das Kuck

Sie fuhren mich hoch ins´ Asklepios, auf die Notfallstation. Station 1.2
„Kann man hier rauchen?“ fragte ich.
„Später.“
Ich wurde in einen Raum gebracht, der aussah wie das Büro von einem
verrückten Wissenschaftler. Die Entropie hatte sich – wie bei den meisten
gescheiten Leuten – auch hier durchgesetzt.
Und dann dachte ich, ich müsse eingeschlafen sein, und wäre in die jenseits
gelegene, süße Welt der Träume entschwebt. Auf einem Stuhl saß eine
kakaobraune Schönheit, wahrscheinlich nicht älter als ich, vielleicht ein oder
zwei Jahre. Sie hatte kurz gebundene Rastazöpfe , eine wunderbar glatte Haut,
mit der sie für jede Creme der Welt hätte werben können, funkelnde Augen, bei
denen das Weiße leuchtete wie eine Neonröhre und passende weiße Ohrringe.
Eine Komposition makelloser Schönheit und der Beweis, dass Gott in seiner
unendlichen Gnade auch Gutes geschaffen hatte.

„Nehmen Sie bitte Platz.“ sagte sie.
Ich nahm Platz. Im ersten Moment hätte ich ihr auch den Knochen geholt, wenn
sie einen geworfen hätte. Ich hätte Sitz gemacht und mit der Zunge gehechelt.
Dann besann ich mich meiner Situation.
„Wie ist Ihr Name?“ fragte sie.
„Barack Obama.“ sagte ich.
„Sehr witzig.“
Irgendwie war durch den Kontakt zur Außenwelt meine Melancholie schlagartig
verflogen, und an ihre Stelle war auf sonderbare Art und Weise ein Gefühl der
Euphorie und das eines gewissen Zynismus getreten. Bis zu einem bestimmten
Grad fühlte ich mich sogar ein wenig als Märtyrer. Wahrscheinlich war ich
verrückt.
„Ist schon klar was hier läuft.“ begann ich. „Ihnen setzt man die besonders
schlimmen Fälle vor, damit Sie sie mit ihrer Schönheit hypnotisieren und die
Suffköpfe keinen Ärger machen.“ Ich kam mir ungemein klug vor.
„Sie können auch mit jemand anderem sprechen.“
„Schon gut. Napoleon Bonaparte. Halten sich nicht alle Verrückten für
Napoleon? Oder sind es die anderen, die alle Verrückten für Napoleon halten?“
Sie ließ ihren Stift fallen und machte eine Geste des Aufstehens.
„Nein okay, ich bin ja schon brav. Daniel Von Dierkes.“ sagte ich.
„Von einem Von steht hier gar nichts.“
„Ich leugne gerne meine aristokratische Herkunft. So kann ich in ner´
Bruchbude wohnen ohne dass die Leute Fragen stellen.“
„Verstehe. Ich muss einige Daten von Ihnen aufnehmen.“
Sie nahm einige Daten von mir auf, während ich wie in Trance diese
wunderbare Gestalt anstarrte.
Sie hatte tatsächlich eine hypnotische Wirkung auf mich. Oder ich war zu
betrunken. Jedenfalls klebte mein Blick an ihr, als suchte ich das Motiv hinter
einem dieser Das–magische-Auge-Bilder.
„Wieso wollten Sie sich umbringen, Herr Dierkes?“
„Sind Sie Psychologin?“ fragte ich.
„Ich hatte während meiner Ausbildung auch Unterricht in Psychologie.“
„Dann lassen Sie doch im Sinne des Abbaus der Distanz das förmliche Herr
Dierkes bleiben. Ich fühle mich dabei immer so alt. Sagen sie Dan.“
Ich bildete mir ein, selbst etwas von Psychologie zu verstehen, aber das war
vermutlich eine Milchmädchenrechnung. Ich war bei Freud und Co. nur selten
über die Mitte eines Buches hinaus gekommen.
„Also schön Dan, warum wollten Sie sich umbringen?“
„Ich wollte mich gar nicht umbringen.“ entgegnete ich scharf.
„Hier steht, Sie hätten ihren Freund angerufen und gefragt, wie viele
Paracetamol man schlucken müsse, um sich das Leben zu nehmen. Wenn Sie
gar nicht vor hatten Selbstmord zu begehen, wieso haben Sie ihn dann
angerufen?“
„Er ist Heilpraktiker. Ich dachte er müsste das wissen.“

„Ergibt das für Sie irgendeinen einen Sinn?“
„Ergibt es für Sie einen Sinn, wenn ich Ihnen sage, dass ich gar keine Tabletten
zu Hause habe, weil ich Tabletten prinzipiell ablehne?“
„Na gut. Wie sieht es denn sonst so bei Ihnen aus? Was machen Sie beruflich?“
„Ich bin Schriftsteller.“
„Was schreiben Sie so?“
„Gar nichts.“
„Hmh. Wie oft trinken Sie denn? Sie haben immerhin…“ Sie sah auf ihre
Unterlagen. „3,81 Promille. Da würde ich hier nicht mehr sitzen können. Die
meisten Menschen könnten das nicht.“
„Na ja, ich ernähre mich ziemlich gesund. Erst heute Morgen hat meine Frau,
eine gutaussehende Vierzigjährige, die sich auf dreißig schminkt, eine ganze
Tüte voll gesundem Obst gekauft. Und eine Gurke.“
„Sie sind verheiratet?“
„Nein.“
„Ich hab das Gefühl, Sie nehmen das alles nicht sonderlich ernst.“
„Hören Sie mal. Sie sind doch Ärztin, und Psychologin, und haben eine
wunderbare Ausstrahlung, was wohl auf einer gewissen inneren
Ausgeglichenheit beruhen dürfte. Wenn Sie analysieren, dass ich 3,81 Promille
habe, hier sitze und mit Ihnen rede, dann können Sie sich doch ausrechnen wie
oft ich trinke. Leute die viel trinken, sagen – jedenfalls darüber – doch ohnehin
selten die Wahrheit.“
„Okay, also regelmäßig. Wie sieht es privat aus? Gibt es da irgendwelche
Schwierigkeiten? In der Familie? Oder mit Freunden? Oder der Freundin?“
„Was meinen Sie damit?“
„Wie ist das Verhältnis zu ihren Eltern?“
„Das zu meiner Mom gut. Mein Alter Herr ist tot.“
„Seit wann?“
„Seit er gestorben ist.“
„Herr Dierkes!“
„Weiß nicht genau. N Jahr oder so.“
„Hmh.“ Sie notierte etwas und tat so als wüsste sie Bescheid.
„Belastet Sie der Tod ihres Vaters?“ fragte sie.
„Nein. Er hat mich eher befreit. Der Mistkerl wollte mich umbringen als ich
noch ein Baby war. Tja, Pech für ihn, ich hab s überlebt. Und ich hab auch n
Autounfall überlebt, ne Blutvergiftung und n Brand und noch ne´ Menge mehr
wo ich hätte sterben sollen. Und ich werde auch das hier überleben, falls Sie sich
Sorgen machen.“
„Sie sagen das mit einer ziemlichen Überzeugung. Was macht Sie denn da so
sicher?“
„Laut der Etymologie meines Vornamens ist Gott mein Richter.“
„Sie sind also gläubig? Evangelisch oder Katholisch?“

„Ich zahle nicht in den Klingelbeutel. Aber eine Bibel hab´ ich trotzdem zu
Hause. Gehört einfach in n gutes Bücherregal. Wie steht s denn mit Ihnen?
Jeden Sonntag in der Kirche?“
„Nein.“
„Richtig, Sie sind ja Ärztin. Der ewige Krieg zwischen Glaube und
Wissenschaft. Sie spielen im falschen Team.“
„Wussten Sie dass der Anfang von Psychosen ein Christus Komplex ist?“
„Ja.“
„Und wie ist das mit Ihren Freunden?“
„Wie ist was mit meinen Freunden? Ob es da Probleme gibt? Oder ob die einen
Christus Komplex haben? Abgesehen davon, dass die Hälfte von denen eher hier
her gehört als ich, ist alles okay. Und bevor Sie fragen: Ich hab keine Freundin.“
„Hmh.“
„Kann ich jetzt eine rauchen gehen?“
„Ja.“
„Kommen Sie mit?“
„Ich bin Nichtraucher.“
„Sie lügen. Ihnen klebt ein Stück Blättchen im Mundwinkel.“
Ein Betreuer kam und sagte mir, dass noch schnell Blutdruck und Puls gemessen
werden müssten. Na meinethalben.
Und dann dachte ich, ich wäre wirklich im Traum oder hätte die Tabletten die
ich nicht da hatte wirklich geschluckt und wäre im Garten Eden oder dem
Nirvana oder von mir aus auch in der sündigen süßen siebten Hölle. Die
Schwester muss jünger als ich gewesen sein, etwas kleiner, in einer knallroten
Hose, einem weißen Pullover und sie hatte ihr Haar zu einem Zopf gebunden. In
ihrem hübschen Gesicht hatte sie niedliche Sommersprossen. Sie sah ein
bisschen so aus wie die junge Jodie Foster.
„So Herr Dierkes, einmal Blutdruck und Puls messen.“
„Sagen Sie mal Schwester, ist es in Krankenhäusern nicht üblich, eher grüne
Farbtöne zu verwenden weil rot die Patienten aggressiv macht oder so?“
Sie antwortete nichts, sondern lächelte nur und pumpte an meinem Arm rum,
dass er mir fast abfiel.
„Sie haben erhöhten Blutdruck.“
„Und Sie haben meine Frage nicht beantwortet. Aber schon gut. Wann kann
ich mit dem Chefarzt sprechen?“
„Erst wenn Sie bei 0 Promille sind. Vorher spricht der Arzt mit niemandem.“
„Verstehe. Und kann ich vielleicht einfach so gehen?“
„Das kann nur der Chefarzt entscheiden.“
„Ist nicht Ihr ernst?“
„Sie müssen noch mal mit nach vorne kommen und Ihre Sachen abgeben.“
„Was denn für Sachen?“
„Geldbörse, Schlüssel. Fotohandy.“
„Ich hab kein Fotohandy.“
„Dann können Sie es behalten.“

Lustige Sache das, man durfte die Irren nicht fotografieren…dabei hätte man
sicher einige brauchbare Schnappschüsse für ne Anti-Drogen-Kampagne
bekommen.
Ich gab meine Wertsachen ab und unterschrieb irgendein Formular dass ich über
Nacht da bleiben würde.
„Morgen muss ich aber dringend nach Hause.“ sagte ich „Meine Mannschaft
spielt morgen.“
„Das entscheidet der Chefarzt.“
„Scheißgefühl was? Ihre Meinung interessiert hier wohl niemanden? Kann ich
jetzt rauchen gehen?“
„Ja. Wir sagen Ihnen dann Bescheid wenn Ihnen ein Zimmer zugewiesen ist.“
„Ach Schwester, da es ja hier wohl kaum etwas zu trinken geben wird… kann
man was zur Beruhigung kriegen?“
„Erst ab 1,0 Promille.“
Ich seufzte und schlenderte durch die Küche ins Raucherzimmer.
Ach herrje…Der erste den ich erblickte war der stadtbekannte Penner Dieter.
Seinerzeit hatte er sich einen Namen dadurch gemacht, dass er eins dieser
Aschenbecherlöcher in den städtischen Mülleimern gefickt hatte. Eine Gruppe
Jugendlicher hatte es gefilmt und ins Internet gestellt. Die Nächstenliebe meiner
Mitmenschen hat mich seit jeher beeindruckt. Psychosen hatten die jedenfalls
nicht, oder aber sie waren über das erste Stadium hinaus.
Dieter trug einen grünen Pulli der vorne voller gelblicher Rotze war. Dazu eine
sich ungemein beißende hellgrüne Jeans, der wie wir alle später unzählige Male
von ihm erfahren sollten, ein Gürtel fehlte, weshalb sie die ganze Zeit über
rutschte.
An der Rückwand des Raums lief ein Fernseher. Na immerhin. Ein Buch hatte
ich bis dahin nämlich nicht entdecken können, nicht einmal eine Bibel, oder eine
Wie-putze-ich-mir-die-Zähne-richtig-Broschüre, und dies sollte sich tatsächlich
auch bis zu meiner Entlassung nicht ändern. Aber wozu sollten sie hier auch
Bücher haben? Die meisten Patienten waren entweder im Laufe ihres Lebens zu
dumm geworden zum Lesen oder so auf Beruhigungsmittel gesetzt, dass sie
wahrscheinlich Mühe hatten, ihren eigenen Schwanz beim pissen zu halten.
Aber ich empfand nur geringfügigen Ekel vor ihnen. Ich war eigentlich jemand
der für die einzelnen Mitgefühl hatte (Christus Komplex) und stets die helfende
Hand reichte, wenn es denn einer bedurfte. Und nun war ja auch ich Matrose
dieses fragwürdigen Kahns, auf dem wir alle angeheuert hatten.
Und Leute glaubt es mir, dort waren eine Menge Hände zu finden, denen man
die Helfende hätte reichen können. Und der Kahn steuerte kapitänlos auf rauer
See durchs Dunkel der Nacht.
Da war zum Beispiel diese Frau aus dem Kosovo. Sie hatte im Krieg ihren
Mann verloren, und war selbst Opfer eines Bombensplitters geworden der ihr
jetzt noch im Arm steckte. Leider war sie so vollgepumpt mit Arzneimitteln,
dass ihr Blick in der Leere des Raums hing wie ein Mobile, das keinen
Windhauch abbekommt. Ihre ohnehin schwer verständliche Aussprache wurde

durch die Medikation bis ins Bodenlose verschlechterte. Sie erzählte mir, dass
sie nach Deutschland geflüchtet war, und nun ließen sie die Träume nicht mehr
los, und sie hörte Stimmen im Kopf. Als sie das sagte, weinte sie beinahe, und
sie kreiste mit einem Finger die ganze Zeit um ihren Hinterkopf.
„Hier drinnen! Die Stimmen hören nicht auf.“ sagte sie, und natürlich war
sofort klar, dass sie nicht nur für eine Nacht hier sein würde, sondern vielleicht
sogar für den Rest ihres Lebens oder dem was davon übrig geblieben war.
Jemand dem es ähnlich ergangen war wie mir war der Pole. Ich weiß seinen
Namen nicht mehr, aber er wurde kurz nach mir eingeliefert, war wohl so um
die fünfzig, langhaarig und vollbärtig, und ich lernte ihn kennen als ich bereits
am rauchen war.
Er setzte sich auf den freien Sessel neben mir.
Dann begann er abwechselnd zu nicken und den Kopf zu schütteln.
„Und? warum bist du hier?“ fragte ich.
Er fing an zu lachen. Er war in etwa so betrunken wie ich.
„Die Bullen.“ sagte er mit leichtem polnischem Akzent.
„Ich war beim Fahrradfahren“ fuhr er fort, „da haben sie mich angehalten.“
Ich nickte. Die Scheiße kannte ich auch zur Genüge.
„Wollten dass ich puste. Aber ich lass mich doch von den Bullenschweinen
nicht anpissen. Hab mich gewehrt. Hab dem einen eine gedrückt, und dann sind
sie auf mich drauf. Haben mich überwältigt. Haben mir Handschellen angelegt.
Bullenschweine. Im Wagen haben sie mich noch geboxt. Ja, als ich
Handschellen anhatte, da haben sie mich geboxt. Aber das glaubt dir ja eh
keiner. Ich bin besoffen, die sind Bullen, keiner glaubt dir das. Als ich
Handschellen angelegt hatte, da waren sie stark. Und zu zweit. Schweine. Und
mein Telefon haben sie mir weggenommen. Ich kann meine Frau nicht anrufen.
Die weiß nicht wo ich bin.“
„Da hinten gibt es n Telefon.“ sagte ich.
„Ja. Brieftasche haben die auch genommen. Aber angerotzt habe ich sie…ha,
ha, Bullenschweine.“
„Gut gemacht.“ lobte ich ihn.
„Die haben mich geboxt als ich Handschellen hatte.“
„Und wie viel Promille haste gehabt?“
„4 Promille.“
„Ordentliche Leistung. Respekt. Die meisten würde so was umhauen. Hab ich
vorhin von der Schwester erfahren…Was war es denn?“
„Wodka.“
Ich fing an zu lachen. Wodka! Dieses verfluchte Teufelszeug.
„Ich hab mal gehört in Russland sei der Wodka stärker als die Politik.“ sagte
ich.
„Ja, ist so.“ sagte der Pole.
Zwei andere Patienten waren nüchtern. Der eine ein riesiger Schwarzer namens
Hakeem, der nur die Nacht hier verbrachte, weil er am nächsten Tag verlegt
werden sollte.

„Sind keine Drogen bei mir.“ sagte er. Er war allerhöchstens Mitte zwanzig,
und er legte seiner Aussprache immer einen Anflug von Rap-Gesten zu Grunde.
Dieses die Schultern bewegen und dabei leicht mit dem Kopf nicken und mit
den Armen gestikulieren.
„Ich bin n Psycho. Ich brauche ne Therapie. Keine Ahnung, Depressionen. Ich
weiß nicht woher die kommen, Mann.“
Er sollte mein Zimmergenosse werden. Irgendwie war ich ganz froh darüber.
Bei ihm musste ich unweigerlich an den vermeintlich stummen Indianer aus Ken
Keseys Einer flog über das Kuckucksnest denken, und daran wie er dieses Ding
aus dem Boden reißt und in die Tür schmettert. Hakeem war auch eher still und
hatte die ganze Zeit einen Kopfhörerstöpsel im Ohr.
Der andere nüchterne war Paul. Paul hatte sich beim Dealen erwischen lassen
und musste eigentlich in den Knast.
„Ich bin doch nicht bescheuert.“ sagte er. Er war etwa in meinem Alter. „Ich
war voll auf Drogen, also gehe ich doch lieber hierher, als in` Bau.
Fünfunddreißiger.“ Seinem Akzent nach zu urteilen kam er aus Sachsen.
„MEIN PFLEGER IST N NAZISCHWEIN!“ brüllte jemand plötzlich von
hinten. Das war Dieter. Er fummelte verzweifelt an seiner Kippenschachtel
herum, bekam aber keine heraus.
„ALLES NAZISCHWEINE, ABER ICH KRIEG DIE KNARRE, DA
KÖNNTER MEINE MUTTER FRAGEN, ICH KRIEG DIE KNARRE!
NAZISCHWEIN, UND MEIN BRUDER KOMMT AUCH. DER EINE.“
Wir in der Runde um den Fernseher (auf dem MTV lief) sahen uns halbwegs
belustigt, halbwegs entsetzt an. Ich gab die Geschichte mit dem Mülleimerfick
zum Besten. Die anderen kannten Dieter nicht. Sie waren nicht aus Göttingen.
Jeder aus Göttingen kennt Dieter. Ich erinnere mich an einen Vorfall, wo er in
der Fußgängerzone lang hingeschlagen war. Er lag mit dem Kopf in einer
Blutlache und um ihn rum standen Passanten. Ich war damals mit Tom auf dem
Weg irgendwohin, und als sich Dieter erhob, sah ich, dass er sich ein Loch in
den Nasenrücken geschlagen hatte aus dem das Blut lief. Mir ist dieses
anatomische Phänomen bis heute ein Rätsel.
Dann kam ein Pfleger herein und fummelte Dieter eine Zigarette aus der
Schachtel. Er sah uns mit mahnendem Blick an.
„Fragt ihn bloß nie nach Tabak oder einer Zigarette.“ sagte er. „Er gibt nichts
ab.“
„ICH HAB AUCH KEIN GELD.“ grunzte Dieter. „ES GIBT KEINEN
TABAK.“
Der Pfleger verschwand wieder.
„Also hier kann man wohl nicht viel mehr machen als rumsitzen und rauchen,
oder?“ sagte der Pole.
Wir alle waren ratlos und glotzten auf MTV.
Dann kam Nadja. Nadja war ein zierliches Geschöpf von zweiundzwanzig
Jahren und Studentin der Soziologie und der Geschlechterforschung. Sie kam

aus dem Iran, und sie war auf einer Party zusammengebrochen weil sie zu viel
getrunken hatte. In ihrem Fall hatte der Alkohol Anstoß an ihren Medikamenten
genommen.
Nadja hatte ein weiteres schwerwiegendes Problem.
„Ich muss morgen dringend hier raus.“ sagte sie zu Schwester Rothose,
während die ihren Blutdruck maß. „Mein Freund hat Geburtstag, und ich muss
morgens zu einer wichtigen Vorlesung.“
„Das entscheidet der Chefarzt.“
„Und wann kann ich den sprechen?“
„Wenn Sie bei 0 Promille sind. Aber wenn ich mir Sie so ansehe, glaube ich
kaum, dass Sie morgen herauskommen werden. Sie schwitzen ziemlich stark.
Ja…und Sie haben zu hohen Blutdruck.“
„Weil ich meine Medikamente brauche. Und außerdem habe ich doch gar nicht
so viel Alkohol getrunken.“
„Sie hatten 1.2 Promille.“
Der Pole und ich sahen uns an und lachten.
„Ich brauche die Medikamente wirklich.“
„Wie gesagt, ich kann da nichts machen.“
„Sie kann da nichts machen.“ wiederholte ich. „Auf sie hört hier keiner.“
Rothose lächelte gezwungen nett.
„Scheiße.“ murmelte Nadja. Sie hatte wunderschöne traurige Augen. Und
tatsächlich stand ihr der Schweiß auf der Stirn des gesenkten Kopfes, und sie
fummelte nervös mit den Händen herum auf die sie Blickte. Ich glaube sie
musste die Tränen unterdrücken.
„Mach dir keine Sorgen“ sagte ich. „die lassen uns morgen hier raus. Ich muss
auch weg. Meine Mannschaft spielt auswärts.“
Ich lächelte Rothose ihrem knackigem Arsch zu, dann ihrem Gesicht, und dann
zog sie mit dem notierten Bluthochdruck von Nadja auf dem Zettel ihres
Klemmbretts davon.
„Kannst du mir eine Zigarette drehen?“ fragte mich Nadja.
„Na klar.“ Ich drehte ihr eine.
Bei dem Versuch sie anzuzünden zitterten ihre Hände so stark, dass ich ihr
Feuer geben musste.
(Zu diesem Zeitpunkt besaß ich mein Feuerzeug noch, aber Feuerzeuge die
einen Moment aus den Augen verloren werden, sind verloren…falls ihr also
jemals ins Asklepios kommen solltet, tragt euer Feuer immer am Körper!)
Hinter uns raschelte es, und es war Dieter der sich eine Buttermilch aus dem
Kühlschrank genommen hatte. Er schaffte es irgendwie sie aufzureißen, und
kippte sich die Hälfte in seinen Schlund. Der Rest hing in seinem Bart fest oder
ergoss sich über seinen Pullover.
„Oh Mann.“ seufzte Nadja. „Wenn wir auf einer anderen Station wären,
Könnten wir wenigstens Billard spielen.“
Normalerweise leide ich nicht unter Entzugserscheinungen, aber dieser Ort
schien auf magische Art und Weise die Krankheiten der Gesamtheit

aufzusaugen, zu speichern und auf den Einzelnen aufzuteilen, damit sich auch
jeder gerecht behandelt fühlt.
Und da außer Konversation scheinbar nichts anderes möglich war -Ich
betrachtete MTV nicht als Option- war man ziemlich alleine mit seinen
Gedanken. Ich bezweifle stark, dass dieser Zustand großartig gegen die Stimmen
im Kopf hilft.
„Der Typ ist völlig fertig.“ sagte Hakeem plötzlich und nickte in Richtung
Dieter.
Wir drehten uns um. Dieter leckte die Reste von Buttermilch von seinem
Pullover.
Der Gedanke an ein Bier oder so was wurde stärker.
„ICH KRIEG DIE KNARRE…“ zischte Dieter. „MEIN PFLEGER IST N
SCHWEIN. HA, HA.“
Etwa eine Stunde später war Nachtruhe angesagt.
„Können wir nicht noch hier sitzen und uns unterhalten?“ fragte Nadja den
Pfleger.
„Nein. Es ist Nachtruhe. Jetzt wird auch das Fernsehen ausgemacht.“
„Was für ein Verlust an Unterhaltung“ sagte ich.
„Und wenn man nicht schlafen kann?“ beharrte Nadja.
„Versuchen Sie es.“
„Ich weiß jetzt schon dass ich nicht schlafen kann. Ich kriege meine
Medikamente hier nicht. Und ich bin überhaupt nicht müde.“
„Sie können noch eine rauchen, und dann ist Schluss. Ich komme Sie gleich
holen.“
Ich drehte Nadja und mir Kippen.
„Vielleicht kann ich mich rausschleichen und zu dir ins Zimmer kommen.“
sagte ich. „Oder du zu uns. Ich werde mit Sicherheit auch nicht schlafen können.
Wir rauchen dann einfach auf den Zimmern.“
„Da gibt es Rauchmelder.“ sagte die Frau mit den zerschnittenen Armen.
„Dann rauchen wir eben am Fenster.“ sagte ich.
„Die gehen nicht auf.“
„Herrgott, irgendwas wird mir schon einfallen.“
„Und ich habe auch noch das Einzelzimmer.“ sagte Nadja. „Ich kann noch
nicht mal mit jemandem reden.“
Wir wurden auf unsere Zimmer gebeten.
Hakeem und ich hatten ein Dreierzimmer, Nr. 1.044. Ein Dritter lag bereits in
seinem Bett und wurde wach als wir hereinkamen. Er war ein älterer Mann, der
sich vermutlich ebenfalls wegen Alkohol hier eingefunden hatte oder
eingefunden worden war…
Es schien ihn nicht sonderlich zu stören, dass Hakeem und ich herumpolterten.
Dann kam der Pfleger noch einmal und schaltete das Licht aus.
„Scheiße ist das dunkel.“ sagte ich. „Wo geht n das verdammte Licht an?“
„Über dem Bett ist n Schalter.“ sagte Hakeem. „Meiner ist defekt.“

Ich fummelte im Dunkel von Raum 1.044 der Notfallstation des ehemaligen
Landeskrankenhauses herum und drückte einen Knopf. Nichts geschah. Ich
drückte ein paar Mal darauf rum, aber alles blieb schwarz.
„Mein scheiß Licht funktioniert auch nicht.“ motzte ich.
Plötzlich ging die Tür auf und die Silhouette einer dicken Krankenschwester
stand im türrahmengerahmten Rechteck des Flurlichts.
„Wer hat hier den Notfallknopf gedrückt?“ zischt sie wie eine
Klapperschlange.
„Das muss ich gewesen sein. Ich habe das Licht gesucht…“
„Es gibt kein Licht. Und keine Unterhaltungen mehr. Jetzt ist Ruhe.“
Sie zog die Tür hinter sich zu.
Hakeem lachte höhnisch in sich hinein.
„Sehr witzig.“ sagte ich. „Vielleicht kriegt sie ja nächstes Mal dich an` Arsch.“
Ich tastete wieder an der Wand herum und fand den richtigen Schalter. Die
Lampe flackerte auf.
„Ich will jetzt jedenfalls eine rauchen. Du nicht?“
Hakeem zuckte die Schultern. Ich stand auf und ging zu den Fenstern. Ich
fummelte an den Hebeln herum. Ganz öffnen ließen sie sich in der Tat nicht,
aber man konnte sie ankippen.
Dann drehte ich mir eine Kippe und suchte meine Taschen nach Feuer ab.
„Verdammt, ich habe mein Feuerzeug liegengelassen.“ sagte ich. „Haste eins
da?“
Hakeem schüttelte den Kopf. Das wurde ja immer besser.
Langsam wurde ich unruhig. Na ja, nicht wirklich unruhig, aber entsetzlich
genervt von der Situation. Hätte ich bloß mein Guthaben nicht aufgeladen
gehabt, dann hätte ich jetzt zu Hause gesessen und hätte gemütlich in mein
Kopfkissen heulen oder meine Toilette vollkotzen können.
Nachdem ich mich mit Hakeem eine Weile über Musik unterhalten hatte, war
unser Gesprächsstoff erschöpft, und da ich immer noch nicht müde war,
überlegte ich wie ich rüber zu Nadja gelangen konnte. Mit ziemlicher Sicherheit
war sie noch wach.
Ich zog meine Hose an, nahm mir den Tabak und trat raus auf den Flur.
Ich erblickte Nadja, wie sie gerade aus dem Raucherraum kam.
Die dicke Schwester – die jetzt bei Licht so hässlich war, dass ich mir doch
irgendwie die Dunkelheit wünschte – kam aus dem Glaskasten, in dem die Ärzte
herumlungerten.
„Was soll das denn hier werden?“ fragte sie.
„Ich will eine rauchen.“ sagte ich.
„Aber nicht zu zweit.“ giftete sie mich an.
Nadja kam zu uns.
„Ich würde aber auch gerne noch eine rauchen.“
„Sie haben gerade schon zwei Stück geraucht. Sie gehen jetzt auf ihr Zimmer.“
„Aber ich verstehe nicht…“
„Da gibt es gar nichts zu diskutieren.“

„Aber…“
„Kein aber. Und Sie rauchen jetzt auch nicht mehr. Ich habe ihnen doch schon
gesagt das Nachtruhe ist.“ Sie sah mich grimmig an. Wahrscheinlich hatten wir
sie aus ihrer Illustrierten gerissen oder sie telefonierte auf Staatskosten mit einer
noch hässlicheren Freundin oder so was.
Nadja ging also zurück auf ihr Zimmer, ich stand noch einen Augenblick da und
überlegte ob ich eine Diskussion lostreten sollte, entschied mich dann aber
dagegen und ging ebenfalls zurück.
„Und das Licht bleibt aus.“ rief sie mir hinterher.
„Lecken Sie mich am Arsch.“ murmelte ich.
Wie ich erwartet hatte konnte ich die Nacht über nicht schlafen. Ich wälzte mich
in meinem Bett herum und versuchte irgendwie auf andere Gedanken zu
kommen. Ich versuchte zu meditieren und mich zu entspannen, ich glaube ich
zählte sogar Schafe. Aber es gelang mir alles nicht sonderlich gut. Ich dachte an
irgendwelche Frauen und überlegte, ob ich onanieren sollte. Aber ich wollte
meinen Samen nicht in diesen Räumlichkeiten vergießen. Nicht aus purer
Langeweile und um die Zeit tot zu schlagen. Außerdem nicht unter dem
gleichen Dach mit dem Mann, der die Mülltonne gefickt hat.
Ich begann zu schwitzen, und ein paar Mal verfiel ich in eine Art
Sekundenschlaf, aus dem ich dann aber ruckartig erwachte.
Ich hatte ein paar Anflüge von Paranoia, ich könnte an Epilepsie leiden, besann
mich dann aber, dass es normal war und dass die elektrischen Ladungen, die
sich während des Tages im Körper aufbauen bei Nacht wieder entladen werden.
So verbrachte ich die Stunden bis es langsam hell wurde.
Und als das Schwarz in dunkles Blau übergegangen war, da war mir klar, dass
bald alles überstanden sein würde. Das Dunkelblau wurde zu hellerem Blau, und
draußen begannen die ersten Vögel zu zwitschern.
Der Schweiß war getrocknet oder von meinem Bettbezug absorbiert worden.
Und abgesehen davon, dass ich wohl etwas übermüdet war – oder vielleicht auch
deshalb – war ich auf eine seltsame Art und Weise tief zufrieden.

3. Eindrücke von einem toten Ort

Am Morgen kam Rothose herein um Blutdruck und Puls zu messen.
„Immer noch ziemlich hoch. 150 zu 100. Und der Puls ist bei 108.“ sagte sie.
„Hmh.“ murmelte ich. Ich zog meine Hose an, packte mir den Tabak und ging
in den Raucherraum. Ich war der erste dort.
Ich schaltete den Fernseher an und zappte auf einen Nachrichtensender. Aber ich
hätte auch jeden anderen Sender laufen lassen können, die Nachricht war überall
die gleiche:
Barack Obama war Präsident der Vereinigten Staaten!
Ich zündete mit einem freudigen Lächeln auf den Lippen die bereits gedrehte
Zigarette an. Eine Zigarette, die wahrscheinlich gedreht worden war, als der alte

George W. seine letzten politischen Atemzüge tat und die nun geraucht wurde,
unter dem ersten schwarzen amerikanischen Präsidenten der Geschichte. Die
Welt hatte sich außerhalb dieser Institution weitergedreht, war in die Offensive
gegangen und der Hoffnungsträger von Millionen von Menschen die nach
Gerechtigkeit schrien hatte den Sieg errungen, während ich mich schlaflos im
Bett einer Psychatrischen Anstalt herumgewälzt hatte.
Wohlmöglich hatte der starke Sturm den dieser politische
Schmetterlingsflügelschlag ausgelöst hatte, mich nicht schlafen lassen, war über
den Atlantik durch das auf Kipp gestellte Fenster hereingekommen und mir in
die Nase geweht. Wie auch immer, mir war es egal. Ich war Zeitzeuge von
etwas großem geworden, und die Zigarette an diesem Morgen schmeckte
phantastisch.
Nadja kam in den Raum geschlendert. Sie sah zerknirscht aus.
„Obama ist Präsident.“ sagte ich.
Es schien sie nicht sonderlich zu interessieren.
„Die lassen mich heute nicht gehen. Da wette ich. Dabei muss ich unbedingt zu
dieser beschissenen Vorlesung.“
„Warum sollten die dich denn nicht gehen lassen?“
„Keine Ahnung. Kannst du mir eine drehen?“
„Klar.“
Sie setzte sich.
„Mein Blutdruck ist immer noch zu hoch.“ sagte sie.
„Meiner auch.“ beruhigte ich sie.
„Und mein Freund hat heute Geburtstag.“
Ich gab ihr die Zigarette.
„Vorne steht das Frühstück.“ sagte sie mir. Sie zitterte immer noch zu stark,
um sich die Zigarette selbst anzuzünden.
„Ich habe keinen Hunger.“ Ich gab ihr Feuer.
Dann kam Krücke herein. Krücke, weil er mit einer Krücke herumhumpelte. Ich
weiß seinen Namen nicht mehr, ich glaube sogar ich wusste ihn nie. Jedenfalls
fehlten Krücke beide Schneidezähne und um seine Augen waren fast
untertassengroße Scheiben. Das Gesicht war dermaßen eingefallen, dass es mich
irgendwie abschreckte. Sein Alter zu schätzen war schwierig, aber ich würde auf
vierzig tippen.
Krücke stellte seine Kaffeetasse auf den Tisch und dann begann er zu meckern.
„Wie sieht denn der Tisch aus? Sone Sauerei. Mach doch mal einer den Tisch
sauber! Wenn die Schwestern das sehen, dann dürfen wir hier nicht mehr
rauchen. Wisch doch mal einer den Tisch ab. Ehrlich, wie sieht das denn hier
aus? Ne, ehrlich…“
Krückes´ Gemecker konnte man nicht richtig ernst nehmen, weil er sehr
langsam sprach. Ich glaube er war auf Morphium. Er erzählte später, dass er
wegen Heroin und Kokain hier wäre, ich wusste allerdings nicht wie lange
schon. Jedenfalls sah er ziemlich beschissen aus, und seine Tarnfarbenhose und
das billige Cap auf seinem Kopf verbesserten den Anblick nicht im Geringsten.

Rothose kam herein um mich pusten zu lassen.
Ich nahm den Plastikstiel von dem kleinen schwarzen Kasten in den Mund und
pustete rein.
„Ja, kräftig…weiter…weiter…weiter…gut!“
Man glaubt gar nicht wie anstrengend die Scheiße ist. Etwa so, als müsse man
einen Ballon aufpusten bis er platzt.
„Und, kann ich jetzt den Chefarzt sprechen?“ fragte ich.
„Der kommt erst gegen Mittag. Und Sie sind noch bei über ein Promille.“
„Kann nicht sein.“
Rothose lächelte überlegen.
„Was ist denn mit meinen Medikamenten?“ fragte Nadja. Nadja war
mittlerweile bei Null.
„Kommen Sie mal mit nach vorne.“ sagte Rothose.
Nadja ging ihr hinterher.
„Obama ist Präsident!“ rief ich der Schwester hinterher. Aber sie interessierte
sich entweder nicht dafür oder sie führte keine ernsthaften Gespräche mit
Patienten, die über ein Promille hatten, weil sie sie nicht ernst nahm. Vielleicht
war sie ja auch erzkonservativ. Nadja wendete mir den Kopf zu und zuckte
verständnisvoll mit den Schultern, bevor sie um die Ecke verschwand.
„Hat er es geschafft, der Nigger.“ murmelte Krücke. Dann nahm er die
Fernbedienung vom Tisch und schaltete auf MTV um.
Einen Augenblick später kam Hakeem herein. Er schien frisch geduscht und
kam mit den üblichen coolen Bewegungen, wobei er diesmal die Arme nach
oben riss wie ein Boxer, der auf dem Weg zum Ring ist und nicht den geringsten
Zweifel daran hegt, seinen Gegner gleich in Grund und Boden zu stampfen.
Er ließ sich auf die Couch fallen und das Holzskelett knackte unter dem Stoff.
„Ist die alte Fotze von heute Nacht weg?“ fragte er.
„Hab sie jedenfalls nicht gesehen.“ sagte ich.
Hakeem wippte mit dem Oberkörper und drehte sich eine Kippe.
„Hast du gepennt?“ fragte ich ihn.
„Klar Mann.“ sagte er.
Langsam trudelten einige vom Vorabend ein. Paul trug sein Frühstückstablett
rein und setzte sich. Auch der Pole kam herein um eine zu rauchen.
„Ich kann heute gehen.“ sagte er. „Scheiße hier.“
„Biste denn schon bei Null?“
„Ist mir scheiß egal. Ich will hier raus. Meine Frau wartet.“
„Hast du gepennt?“
„Ein bisschen. Und zu Hause werd` ich mir erst mal ne Flasche Wodka
reinziehen.“ Er lächelte zufrieden.
„Hast du eigentlich Kinder?“ fragte ich ihn.
„Zwei Stück, aber beide schon erwachsen. Wohnen woanders.“
„Eh.“ meldete sich Krücke zu Wort. „Das geht so nicht. So ein Dreck war hier
noch nie. Überall Tabak. Die lassen uns hier nicht mehr rauchen wenn das so

aussieht.“ Er schüttelte verständnislos den Kopf und richtete sich schwerfällig
mit Hilfe seiner Krücke auf, um anschließend in der Küche zu verschwinden.
Eine Minute später kehrte er mit einem nassen Lappen zurück und wies uns an
unsere Sachen vom Tisch zu nehmen.
Krücke wischte ordentlich über die weißen Flächen der zwei aneinander
geschobenen Tische, bis alle Krümel beseitigt waren.
„Ist gut jetzt.“ meinte Paul, der offensichtlich keine Lust hatte, das Tablett
noch länger auf seinen Knien halten zu müssen.
„Das muss hier n bisschen sauber sein. Die lassen uns sonst nicht mehr hier
rauchen. Glaubt es mir.“
„NAZI SCHWEINE.“ hörte ich es tönen.
„Schon wieder der Spinner.“ murmelte Krücke. „Der ist schon seit ein paar
Wochen hier. Und immer das gleiche. Gleich fängt er von seiner Mutter an, und
der Knarre. Ich werde wahnsinnig.“
Krücke brachte den Lappen zurück in die Küche.
Dieter trug die gleichen Sachen vom Vortag.
„SCHEIß HOSE!“ maulte er, als er reinkam. „HAB KEINEN GÜRTEL.
RUTSCHT IMMER DIE SCHEIßE. HIER, RUTSCHT. SCHEIßE. UND MEIN
PFLEGER IST NE NAZISAU. HA. KEIN GÜRTEL.“
Der Pole sah mich beschwörend an, aber mir fiel auch nichts Besseres ein als die
Augenbrauen hochzuziehen.
Der Pole stand auf und ging. Ich weiß nicht ob sie ihn entlassen haben, ich sah
ihn nicht wieder.
Nadja kam zurück.
„Und?“ fragte ich.
„Ich hab Rivotril zur Beruhigung bekommen. Also muss ich heute noch
hierbleiben.“
„Ist der Chefarzt denn schon da?“
„Nein. Aber wenn man das Mittel genommen hat, muss man zwölf Stunden
hier ausharren.“
„Das ist doch absurd.“ sagte ich. „Du bist doch die einzige Normale hier.“
„Ich weiß auch nicht wie ich es hier aushalten soll. Und wenn du gehst, dann
kann ich mich mit niemandem mehr unterhalten.“
„NAZISCHWEINE!“ brüllte Dieter.
„Drehst du mir noch eine?“
„Das bring ich dir auf jeden Fall noch bei bevor ich gehe. Wieso kannst du das
eigentlich nicht?“
„Ich rauche normalerweise gar nicht.“
„Also. Guck genau zu, und die nächste drehst du dann selber.“
Ich drehte ihr langsam die Zigarette, und erzählte dazu irgendwas als wäre es die
Anleitung für ein schwieriges Küchengerät. Was für ein erhabenes Gefühl wenn
man gebraucht wird…
„Weißt du was.“ sagte ich dann. „Ich will auch Rivotril zur Beruhigung.“

„Das kriegst du erst ab ein Promille. Und dann kannst du heute nicht mehr
gehen.“
„Ist mir egal. Dann gehe ich eben morgen.“
„Dann musst du mal die Schwester fragen.“
„Meinst du denn, man kann einfach so hier bleiben auch wenn einem gar nichts
ernsthaftes fehlt?“
„Frag halt.“
Ich gab Nadja die Kippe, die für einen Präzedenzglimmstängel nicht gerade
vorbildhaft geraten war und ging nach vorn zu dem Glaskasten.
Die Pfleger waren am Frühstücken.
Rothose erhob sich von ihrem Stuhl und kam zu mir.
„Ja Herr Dierkes.“ fragte sie.
„Ich würde gerne was zur Beruhigung bekommen.“ sagte ich.
„Dann müssen Sie erst noch mal pusten.“
Ich pustete noch mal und war noch über ein Promille.
Ich ging zurück ins Raucherzimmer. Außer Nadja war niemand dort.
„Geht noch nicht.“ sagte ich.
„Hoffentlich kannst du bleiben.“ sagte sie.
Eine halbe Stunde später forderte Rothose uns alle auf zum EEG zu kommen.
Als ich in den Raum trat, war dort eine großgewachsene Ärztin, die sanftmütig
lächelte. Dazu einer der Pfleger, der auf einem Stuhl saß.
„Nehmen sie erst mal Platz.“ sagte der Pfleger.
„Platz ist ja das einzige was man nehmen kann, ohne dafür sitzen zu müssen.“
zitierte ich Heinz Erhardt.
„Zuerst wird ihnen Blut abgenommen. Für einige Tests.“ sagte die Ärztin.
„Sie haben doch keine Angst vor Spritzen?“
„Ich könnt ne Finanzspritze gebrauchen, sonst hab ich lange keine bekommen.“
sagte ich.
„Es wird nicht schlimm werden.“
Sie wischte mit irgendwas Kaltem über die Innenseite meines linken Unterarms
und jagte mir anschließend die Nadel rein. Ich drehte den Kopf weg und biss mir
auf die Unterlippe.
„So, das wars schon. Schon mal ein EEG gemacht?“
„Keine Ahnung. Wenn dann ist es schon ne Zeit her.“
„Legen Sie sich mal bitte auf den Rücken. Es reicht wenn Sie ihr T-Shirt
hochziehen.“
Ich legte mich auf die Liege und zog mein T-Shirt hoch. Dann bekam ich
irgendwas an meine Brust angeschlossen und an den Kopf.
„Das zeichnet ihre Gehirnströme auf.“ sagte die Ärztin. „Ist total harmlos.”
„Aber wenn ich wahnsinnig bin, dann sehen Sie das?“
„Nein.“ lachte sie. „Aber das habe ich auch so schon gemerkt.“
„Verstehe. Und der Bluttest, der würde ihnen zeigen wenn ich irgendwie krank
wäre?“
„Unter Umständen ja.“

„Na wunderbar. Ich war seit Jahren nicht mehr beim Arzt.“
„Dann wird es wohl Zeit.“
Die Nadel, die meine Gehirnströme aufzeichnete, rutschte über das Papier wie
ein verdammter Seismograph.
„So, das war es auch schon.“
Die Ärztin entkabelte mich, gab mir die Hand und sagte ich könne den nächsten
reinschicken.
Ich schickte den Nächsten rein und fand Nadja in der Küche vor einem Bild
stehend.
„Was soll n das darstellen?“ fragte sie.
Ich sah mir das Bild an.
„Ich würde sagen das soll dann wohl Obst sein.“ meinte ich.
„Reichlich hässlich, oder?“
„Vielleicht beruhigen Stillleben die Patienten.“
„Vielleicht machen sie sie ja auch total kirre. Ist das ne Mango?“
„Könnte sein. Und das hier ist wohl n Stück von ner Melone.“
„Ja. Und hier ne Zitrone… und ne Kiwi“
„Ne Avocado. Reichlich exotisches Zeug.“
„Aber das soll ne Birne sein, oder?“
„Denke mal ja. Magst du Kunst?“
„Diese hier nicht. Aber eigentlich schon. Und du?“
„Ich mag Surrealisten.“
„Ja, mit Rivotril was ich gekriegt habe, hab ich n Zeitgefühl, als wär ich in
irgend einer daliesken Landschaft.“
„Ehrlich? Ich will das jetzt auch haben. Ich muss doch mal langsam bei eins
sein.“ Ich zupfte an meinem Kinnbart herum.
„Du wolltest dich nicht wirklich umbringen, oder?“ fragte Nadja. Sie sah mich
mit ihren glasigen Augen ernsthaft an.
„Keine Ahnung. Jedenfalls hatte ich keine Tabletten zu Hause.“
„Ich komme mit nach vorne.“
„Gut.“
Rothose kam mit ihrem Klemmbrett.
„Ich will das was sie gekriegt hat.“ sagte ich.
„Aber ich dachte, Sie wollten heute unbedingt gehen. Sie müssen zwölf
Stunden lang…“
„Ich weiß. Geben Sie mir das Röhrchen.“
Sie ließ mich pusten, und endlich war ich unter eins.
Rothose verschwand kurz, besprach sich offenbar mit irgendeinem anderen Arzt
und kam dann mit zwei kleinen Plastikbechern zurück.
„So.“ sagte sie und reichte mir den ersten, in dem vier bunte, unterschiedlich
große Tabletten warteten.
„Das sind Vitamine.“
„Sehr gut.“ Ich spülte die Dinger mit einem Schluck Wasser runter.
„Und das hier ist gegen den Entzug.“

„Entzug? Ich…“
„Und zur Beruhigung.“
„Und was genau merke ich davon?“
„Sie werden müde.“
„Dann verpasse ich zwar den ganzen Spaß, aber na gut.“
Ich schluckte das Gesöff runter, und es schmeckte bitter und süß zugleich. Ich
gab Rothose ihre Plastikbecher zurück.
„Und mit dem Chefarzt spreche ich aber dennoch, oder?“
„Ja, aber der…“
„Der Kommt erst gegen Mittag. Schon klar.“
Sie nickte und wackelte davon.
„Das war dann wohl mein Ticket mit dem ich für heute eingecheckt hab.“
lächelte ich.
„Ich bin froh das du bleibst.“ sagte Nadja.
„Ich irgendwie auch.“
„Du musst dich in der Essensliste eintragen. Du hast die Wahl zwischen zwei
Gerichten.“
„Ich glaube nicht dass ich was runter kriegen werde.“
„Aber wenn doch hast du wenigstens was leckeres. Ich hab mir das
Vegetarische bestellt. N Salat.“
„Und was ist das andere?“
„Ich glaube Schnitzel oder so was. Wir können ja mal gucken.“
Das andere war Schnitzel, und ich trug mich dafür ein.
„Lass uns eine rauchen.“ sagte ich. „Ich will sehen, ob du hinbekommst eine zu
drehen.“
Wir gingen ins Raucherzimmer und setzten uns auf die Couch.
„Verdammt, der Tabak ist fast alle.“ sagte ich.
„Die Pfleger gehen manchmal los, dann können sie einem Tabak mitbringen.
Ich habe schon einen bestellt.“
„Im ernst?“
„Klar. Na gib her das Kraut. Und n Blättchen, ich versuche erst mal ohne Filter
zu drehen.“
Ich sah zu wie sie sich anstellte, und bemerkte dass ihre Hände aufgehört hatten
zu zittern.
„Na, was sagst du?“ fragte sie als sie fertig war. Sie hielt mir das sehr
eigenwillige Exemplar einer Zigarette hin.
„Nicht schlecht für die erste.“ sagte ich.
„Lügner.“ grinste sie.
Dann mussten wir lachen.
Als das Rivotril zu wirken begann, schlenderten wir gerade über den Flur. Da
ich in Hausschuhen hergebracht worden war, war es ein fast heimisches Gefühl.
„Spielst du Schach?“ fragte ich. Das Mittel hatte mich in einen sehr
gemütlichen Zustand versetzt.

„Nicht besonders gut. Warum?“
„Ich habe dahinten eine Spielesammlung entdeckt.“
„Tatsächlich. Dann lass uns doch was spielen.“
Wir schlenderten Richtung Schrank auf dem Flur, und entdeckten ein Stück
weiter hinten einen kleinen Raum.
„Was gibt es denn hier?“ meinte ich. Es war offensichtlich kein
Patientenzimmer.
„Lass uns nachgucken.“
Die Tür war offen, und wir gingen hinein.
„Ist nicht wahr.“ sagte ich.
In dem Raum standen eine Tischtennisplatte, ein Kicker und ein Fitnessfahrrad.
(Welcher Mensch auf Entzug setzt sich wohl auf ein Fitnessfahrrad?)
„Was hälst du von einer Runde Kicker?“ meinte Nadja.
„Klar, warum nicht.“
Wir begannen zu kickern.
„Ich hab früher in der Schule viel gespielt.“ sagte sie.
„Ich auch. Kicker und Tischtennis, das waren meine Pausen. Jedenfalls bevor
ich Gras geraucht habe.“
„Auf welcher Schule warst du denn?“
„Auf der IGS. Hier in Göttingen.“
„Tatsächlich? Da war ich auch. Das waren die gleichen Kicker wie der hier,
stimmts?“
„Ja, waren sie.“
Das Kicker spielen war ziemlich anstrengend, und ich verlor das erste Spiel
relativ kläglich mit 10:3. Das Mittel tat seine Aufgabe ausgezeichnet. Mir war
alles egal.
„Wie oft kann man das Zeug denn kriegen?“ fragte ich.
„Bis zu sieben Mal am Tag.“
„Wirklich?“ Ich musste lachen, und kassierte ein Tor des linken Verteidigers.
Nachdem ich drei Spiele verloren hatte, forderte ich Nadja zu einer Runde
Tischtennis heraus. Ich war ein ziemlich guter Tischtennisspieler.
„Das kann ich überhaupt nicht.“ sagte sie, als sie mir den ersten Schmetterball
um die Ohren schlug.
„Hmh.“ brummte ich. „Schon klar.“
Dann gab es Mittagessen. Zuvor hatten wir noch eine Partie Dame gespielt, weil
es keine Schachfiguren gegeben hatte und auch dabei hab ich verloren. Wir
waren so vollgepumpt, dass wir tatsächlich die Regeln nachlesen mussten, weil
wir uns nicht entsinnen konnten in welche Richtungen die Damen laufen
konnten. Außerdem hatten wir zu Beginn des Spiels lediglich zwei, statt drei
Reihen mit Steinen aufgebaut.
Als das Essen kam, schoben wir das Spielbrett bei Seite um Platz zu haben.

Mein Schnitzel sah halbwegs brauchbar aus. Ebenso Nadjas Salat. Aber die
Wirkung des Rivotrils schien nachzulassen, und irgendwie wollte kein rechter
Appetit aufkommen.
Ich würgte etwas von den Schwarzwurzeln runter, und biss zwei oder drei Mal
von dem Schnitzel ab. Weil meine Hand zitterte, konnte ich die Gabel nicht
richtig halten. Und das Schlucken an sich stellte sich ebenfalls als fast
unüberwindbare Hürde heraus.
Hakeem kam herein. Er war wohl schon fertig mit essen.
„Ist gar nicht so schlecht, das Fleisch. Oder?“ sagte er.
„Ja.“ erwiderte ich abwesend.
Er setzte sich neben Nadja, mir gegenüber.
„Isst du das nicht mehr?“ fragte er mich.
Ich schob ihm mein Tablett rüber.
„Zieh es dir rein, Mann.“
Nadja stocherte auch mehr schlecht als recht in ihrem Salat herum. Wir lechzten
beide nach Medizin.
„Ist echt gut.“ schmatzte Hakeem. „Ich werde gleich verlegt. Dann bin ich hier
raus. Freie Station. Mit Ausgang und so. Wolltest du nicht heute gehen?“
„Hab noch n Tag dran gehängt.“ sagte ich. „Die haben mir was zur Beruhigung
gegeben.“
„Echt? Was n?“
„Weiß nicht wie das Zeug heißt Rivotril oder so. Macht aber schläfrig. Alles
verschwimmt so n bisschen. Ist n ganz angenehmes Gefühl. Son Scheiß-Egal-
Gefühl.“
„Coole Sache, Mann.“
„Ja.“
Er hatte das Schnitzel verschlungen, auf die Kartoffeln verzichtet und schob das
Tablett zurück zu mir.
„Danke, Mann.“ sagte er. „Ich hoffe du kriegst n coolen Zimmergenossen. Der
von letzte Nacht ist eben entlassen worden. Und ich mache auch bald die
Biege.“
Und dann lernte ich Andre kennen. Andres erster mir bewusster Auftritt bestand
aus hektischen Bewegungen und dem Griff nach einer der Wasserflaschen, von
denen man hier trinken konnte so viel man wollte. (Für Saft musste man einen
Pfleger rufen, der einen Schrank aufschloss und dann eine 1 Liter Tüte
rausrückte. 25% Fruchtgehalt!)
Er kippte sich die halbe Flasche in den Hals, und sah dann mich an.
„Ey.“ sagte er. „Cooles T-Shirt. Tauschst du manchmal?“
„Was?“ fragte ich. Ich hatte nicht die leiseste Ahnung was der Kerl von mir
wollte.
„Ob du manchmal Klamotten tauschst?“
„Hab ich glaub ich noch nie gemacht.“
„Haste coole Klamotten dabei? Ich bin gerade am waschen.“

„Ich hab überhaupt keine Klamotten dabei. Nur das was ich anhabe. Und
wie…du bist am waschen?“
„Da hinten im Waschraum. Da kannst du deine Klamotten waschen.“
Er zwinkerte mir zu, wie irgendeine Schwuchtel aus einer 50er Jahre Kneipe.
Andre war natürlich der Neue auf meinem Zimmer. Und Andre war freiwillig
hier. Und natürlich war er nicht freiwillig hier, weil er es gebraucht hatte,
sondern weil er hoffte hier Tabletten die er herein geschmuggelt hatte verkaufen
zu können. Und weil man umsonst seine Wäsche waschen konnte.
Andre war der personifizierte Abschaum. In seiner engen Jeans, dem ärmellosen
T-Shirt und mit seinen Tätowierungen, hätte er besser auf irgendeinen Rave
gepasst als hier her. Er hatte kurz geschorene Haare, und er war ununterbrochen
am Reden.
„Hast du nur deine Hausschuhe? Ich habe noch n paar neue Adidas dabei. Was
hast n du für ne Größe? Ich hab 43. Hast du Geld dabei, ich muss mal
telefonieren. Hast du zehn Cent?“
„Ich hab kein Geld dabei.“
„Scheiße. Hast du n Handy? Ich muss mal dringend n Kollegen anrufen.“
„Nein.“ log ich. Der Kerl sollte mir bloß vom Leib bleiben. Aus jeder Pore
seines Körpers strömte der Schweiß des Abartigen.
Nadja und ich gingen zu Schwester Rothose, und ließen uns ein weiteres
Wunderelixier verabreichen. Ich hoffte das machte die Sache erträglicher.
Als wir wieder ins Raucherzimmer kamen, war Andre auch da. Er rauchte
Marlboro Lights, was irgendwie zu ihm passte.
Im Fernsehen lief MTV, und Hakeem wippte zu irgend einem Rap herum.
Hinten wo wir Dame gespielt hatten, saß jetzt Dieter und fummelte mal wieder
an seinen Kippen herum. Wir mussten uns also zu Andre gesellen.
„NAZISCHWEINE.“ brüllte Dieter. „ICH KRIEG DIE SCHEIßE HIER
NICHT RAUS. SCHEIßDINGER! SCHEIß ZIGARETTEN!“
„Halt deine Fresse.“ rief ihm Andre zu.
Dann kam Dieter rüber zu uns. Er wollte dass ihm jemand eine Kippe aus der
Schachtel holte.
„ICH HAB ZU FETTIGE FINGER. DIE HABEN HIER KEINE CREME. DIE
SCHWEINE. HABEN MEINE HAUTCREME GEKLAUT. MEIN PFLEGER
DAS NAZISCHWEIN. ABER ICH KRIEG DIE KNARRE. FRAGT MEINE
MUTTER, ICH KRIEG DIE KNARRE UND DANN KNALLTS.“
Keiner wollte Dieters fettige Zigarettenschachtel anfassen, und so stand er ratlos
im Raum.
„Alter verpiss dich, du bist eklig.“ fuhr ihn Andre an.
Dieter lachte und hustete irgendwie gleichzeitig, und zog dann beleidigt davon.
„Der hat voll einen weg.“ sagte Hakeem.
„Der ist voll abartig, der widerliche Penner.“ meinte Andre. Und dann fiel sein
Blick auf Nadja.
„Eh.“ sagte er zu ihr. Sie schien abwesend. „Hast du mal überlegt Nutte zu
werden?“

Hakeem und ich sahen uns ungläubig an.
„Da kannste gut Kohle verdienen. Ich kann das für dich managen. Is voll der
geile Job. Du bist doch süß. Kannst dir die Kerle sogar aussuchen. Voll das
Luxusleben. Drei, vier Typen am Tag, und du hast dreihundert Euro. Ich krieg
die Hälfte. Aber ich pass auf dich auf.“
„Alter was ist denn mit dir los?“ fragte Hakeem.
„Was denn? Ist doch voll der gute Job. Kannst n richtig gutes Leben führen.“
Nadja antwortete nicht auf die Frage.
„Du kannst sie doch nicht ernsthaft fragen ob sie Nutte werden will.“ lachte
Hakeem.
„Wieso nicht? Wie alt bist du denn? Zwölf? Dreizehn?“
Nadja sah Andre beleidigt an.
„Ich bin zweiundzwanzig.“ sagte sie. Aber ihre Stimme schien von sehr weit
weg zu sprechen.
„Ist doch perfekt. Siehst jünger aus. Da stehen die Kerle drauf!““
Vollkommen irritiert von der Situation wurde ich von Rothose gerufen, die mir
sagte, dass der Chefarzt mich jetzt sprechen wolle.
Ich ging durch den Glaskasten hindurch in ein Büro.
Der Chefarzt war ein Mann mit Halbglatze und Brille, dennoch wirkte er
ungemein gesund. Seine Körpersprache zeugte mit ihren langsamen
Bewegungen entweder von Ausgeglichenheit, oder von Tablettensucht.
Vielleicht rauchte er auch Gras.
„Tag Herr Dierkes.“ sagte er. „Als erstes würde ich Sie bitten mal ein anderes
T-Shirt anzuziehen.“
„Ich habe kein anderes dabei.“ sagte ich.
„Ja, aber so können Sie hier nicht herumlaufen.“
„Wieso nicht?“
„Weil das hier ein Krankenhaus ist. In der Disco können Sie das meinetwegen
tragen. Oder draußen. Aber nicht hier.“
Ich sah an mir runter. Das T-Shirt war das Geburtstagsgeschenk eines Freundes
gewesen. Auf der Vorderseite stand: SEX HAB ICH GENUG, während auf der
Rückseite weitergeführt wurde: DAS LEBEN FICKT MICH JEDEN TAG. Ich
fand, es passte ausgezeichnet hier her.
„Ich wurde einfach so hergebracht.“ verteidigte ich mich.
„Schwester, dann gucken Sie doch mal, ob wir für den jungen Mann nicht noch
irgendwo ein Hemd haben. Das geht so nicht.“
Rothose verschwand aus dem Raum, und ich setzte mich.
Der Chefarzt las von irgendeinem Zettel.
„Sie haben sich also entschlossen, noch einen Tag zu bleiben.“ sagte er. „Dabei
sind Sie gar nicht freiwillig her gekommen. Gefällt es ihnen hier so gut?“ Der
Arzt lächelte einnehmend.
„Ich hab heute ohnehin nichts besseres vor. Mein Methodisten Magazin kommt
immer erst am Freitag.“

„Und Sie wollten einen Suizid Versuch unternehmen? Was ich ihnen zu erst
einmal sagen kann, Paracetamol bewirkt so betrachtet überhaupt nichts.
Abgesehen davon das Paracetamol im Zusammenwirken mit Alkohol massiv
ihre Leber zerstört. War das denn wirklich ernst gemeint?“
„Nein. Ich war einfach betrunken.“
„Also das Sie sich nicht umbringen wollten, das glaube ich ihnen. Und was das
Trinken betrifft, Sie hatten fast vier Promille. Da ist man eigentlich, wenn man
nicht regelmäßiger Konsument ist, tot. Obwohl man natürlich normalerweise
bevor es so weit kommt einschlafen würde. Nun kann man zehn, fünfzehn,
zwanzig Jahre trinken und es passiert überhaupt nichts. Leider ist es aber so dass
die Leber, wenn sie einmal versagt, was durchaus der Fall sein kann wenn sie
weiterhin so regelmäßig trinken, nur schwer ersetzt werden kann. Natürlich gibt
es Spenderlebern. Aber in der Regel wartet man darauf ziemlich lange.
Außerdem handelt es sich dabei um keine gesunden Lebern, sondern ebenfalls
um Lebern von Alkoholikern.“
„Klingt irgendwie ekelhaft.“
„Ist auch keine schöne Sache. Was hatten Sie denn an dem Tag getrunken?“
„White-Russian.“
„Hier steht Sie haben ihr Studium abgebrochen und sind jetzt Schriftsteller.
Schon was veröffentlicht?“
„Nein.“
„Und was haben Sie studiert?“
„Philosophie.“
Der Chefarzt lehnte sich träumerisch in seinem Sessel zurück, und wiederholte
das Wort mit einer Stimme, als wäre er darin verliebt.
„Philosophie… Ja, das finde ich auch spannend. Und es war nicht das richtige?
Das passt doch zu ihrem Wunsch mit dem Schreiben.“
„Ja. Belassen wir es dabei.“
„Gut. Dann bleiben Sie heute also noch hier und entgiften. Gegen den Entzug
haben Sie ja schon etwas bekommen. Ich schreibe auf, dass Sie sich von dem
Suizidgedanken glaubhaft entfernt haben. Und wenn Sie sich morgen besser
fühlen sollten, können Sie gehen. Ganz ehrlich, mein Eindruck ist auch der, dass
Sie nicht unbedingt hier her passen. Ich würde ihnen allerdings dazu raten, eine
psychologische Behandlung in Betracht zu ziehen. Und lassen Sie das
regelmäßige Trinken sein, denn wenn sie betrunken sind, dann wird Sie kein
Psychologe ernst nehmen. Mehr noch, es wird Sie kein Psychologe überhaupt
erst behandeln wollen.“
„Verstehe. Dann behandele ich eben die Psychologen. Danke Doc.“
Ich stand auf und wollte gehen, als mir noch etwas einfiel.
„Ach so.“ sagte ich.
Der Chefarzt blickte auf.
„Ist es möglich die psychologische Behandlung bei der Dame zu bekommen,
die hier gestern Abend meine Daten aufgenommen hat? Ich glaube die könnte
mir helfen.“

„Das war eine Kollegin von einer anderen Station. Sie war gestern nur als
Aushilfe hier. Und sie ist in festen Händen.“
„Natürlich.“
Das war also das grandiose Gespräch mit dem sagenumwobenen Chefarzt. Ich
kehrte ins Raucherzimmer zurück, und drehte mir eine Zigarette.
„ICH HAB SO FETTIGE FINGER. ABER ICH KRIEG DIE KNARRE. JA,
DA KÖNNTER MEINE MUTTER FRAGEN, DIE HAT MEINE KNARRE
NÄMLICH. MEINE HOSE RUTSCHT IMMER. SCHEIßE, ICH BRAUCHE
MEINEN GÜRTEL. SCHWESTER! ICH WILL MEINE HAUTCREME
HABEN…“
Andre rauchte eine seiner Marlboro Lights.
Hakeem war verschwunden.
Nadja war wie in Trance. Trotz des Rivotrils machte sie wohl einen starken
Entzug durch. Als Andre ihr mehrere Male anbot ihr eine seiner Tabletten zu
geben wenn sie mit auf sein Zimmer käme, zögerte sie tatsächlich einen
Moment lang, obwohl ihr natürlich genau klar war auf was das hinausgelaufen
wäre. Später am Abend, als Andre sich selbst eine seiner Pillen reingezogen
hatte und wie tot auf der Couch lag, sagte Nadja mir, sie sei kurz mit ihm
mitgegangen. Aber als er angefangen hatte sie zu befummeln, war sie geflüchtet.
„Was soll ich gegen den machen?“ sagte sie. „Wenn der mich vergewaltigt hab
ich keine Chance mich zu wehren.“
Ich war zu betäubt um selbst etwas zu unternehmen, aber ich hätte Andre am
liebsten eins der Küchenmesser in seinen Hals gerammt und zugesehen wie er
elendig verreckt.
Nach dem Abendessen saßen wir wieder vor MTV, und Krücke beschwerte sich
über den Dreck auf dem Tisch.
„Die lassen uns hier nicht mehr rauchen, wenn das so aussieht. Ich habe den
Tisch die letzten Male abgewischt. Kommt schon, mach mal jemand den Tisch
sauber.“ Sein Morphium oder was auch immer muss stark gewirkt haben, denn
seine Augen rollten permanent nach oben, so dass die Pupillen verschwanden
und nur das Weiße zu sehen war.
Andre räusperte sich auf der Couch.
„Mach du doch mal den Tisch sauber.“ sagte Krücke zu ihm.
„Mach n doch selber sauber.“ sagte Andre. „Guck dir lieber mal deine Fresse
an! Du hast ja nicht mal mehr Schneidezähne! Da brauchst du auch keinen
sauberen Tisch. Elender Junkie. Ich haue morgen früh sowieso ab. Mir ist egal
ob man hier rauchen kann oder nicht.“
Krücke schien angeschlagen. Aber er war zu betäubt um sich zu wehren.
„Haste das gehört?“ sagte er in deprimiertem Tonfall zu mir. „Macht der sich
über meine Zähne lustig. Ja toll! Das ist ja auch einfach. Ich hab nächste Woche
n Termin beim Zahnarzt, und dann werden meine Zähne gemacht. Die blöde Sau
die.“
Er stand auf und holte den Lappen aus der Küche.
„Elendes Pack hier.“ murmelte Andre und schloss wieder die Augen.

Die Zeit plätscherte irgendwie dahin. Und dann, als es draußen bereits dunkel
geworden war, torkelt ein neuer Gast herein. Er setzte sich in den Sessel, stützte
das Kinn auf die Hände und sah mich musternd an. Seine Augen waren in keiner
Form bösartig oder zeugten von Aggressionen. Im Gegenteil, sie sahen sehr
sanft und gütig aus, nur starrte er mich an als hätte er genau mich hier erwartet,
und war nun froh mich gefunden zu haben.
„Wir kennen uns doch.“ sagte er.
Ich sah ihn mir genauer an, und irgendwie kam mir das Gesicht tatsächlich
bekannt vor. Allerdings hatte ich keine Ahnung woher.
„Du hast mir doch gesagt, ich soll auf mein Herz hören.“ sagte er.
Ich war sichtlich verwundert.
„Ich habe dir das gesagt?“ fragte ich ungläubig. Ich war verwirrt. Der Satz
hätte durchaus von mir stammen können, vielleicht während irgendeiner
besoffenen Unterhaltung im Park, an die ich mich nicht erinnerte.
„Christian.“ sagte er.
„Du musst mich verwechseln. Ich bin nicht Christian.“
„Ich bin Christian.“ sagte er.
Plötzlich durchzuckte mich ein Blitz der Erkenntnis. Christian? Das konnte nicht
sein. Obwohl eine gewisse Ähnlichkeit bestand schon irgendwie…wenn er lange
genug weiter getrunken hatte…
„Moment mal.“ sagte ich. „Christian…mein alter Mathelehrer?“
Er lächelte, aber sagte im ersten Moment nichts.
„Nein!“ sagte ich. „Du warst nicht Lehrer an der IGS, oder doch?“
„Du hast doch mal Einsen geschrieben.“ sagte er.
„Das kann doch nicht wahr sein.“ sagte ich. „Was um alles in der Welt machst
du denn hier? Du hattest doch aufgehört zu trinken.“
„Was um alles in der Welt machst du hier?“ fragte er lächelnd.
„Ist ne lange Geschichte.“ sagte ich.
Ich glaubte das nicht. Christian hatte schon als Lehrer getrunken. Er lief ständig
mit einer Fahne herum, und jeder wusste was los war. Manche machten sich
deshalb über ihn lustig, und dann verschwand er meistens kurz aus dem
Klassenzimmer und trank noch mehr. Aber das letzte was ich von ihm gehört
hatte, war das er trocken wäre.
„Ich wollte mir ne Kugel in´ Kopf jagen.“ sagte er. „Ich hatte die Pistole schon
angesetzt…aber dann konnte ich nicht. Und dann bin ich hergefahren.“
„Wieso wolltest du das tun?“ fragte ich entsetzt.
„Ich hab´ solche Rückenschmerzen.“ sagte er. „Ich kann nicht schlafen. Kein
Arzt kann etwas dagegen machen. Tabletten, Spritzen, alles wirkungslos. Ich
halte es nicht mehr aus.“ Er stöhnte, und zündete sich eine Zigarette an.
Er war dünner als damals. Ich konnte das immer noch nicht richtig fassen.
„Aber du wolltest das nicht tun, weil ich dir gesagt habe, dass du auf dein Herz
hören sollst?“ sagte ich unsicher.
Er schüttelte leicht den Kopf und musste lächeln.
Als er aufgeraucht hatte, verschwand er auf sein Zimmer.

Nadja und ich ließen uns noch etwas von dem Rivotril geben, und dann warteten
wir auf die Nachtruhe.
„Schon verrückt wo das Schicksal einen Menschen hinbringen kann.“ sagte ich
von weit weg.
„Das Schicksal ist eine Hure.“ murmelte Nadja verbittert.
Als der Pfleger die letzte Zigarette ankündigte, ging ich auf die Toilette um zu
scheißen. In dieser Nacht würde ich wahrscheinlich schlafen wie ein Toter. Und
keinesfalls wollte ich, auf Grund eines nervtötenden Drückens im Darm, diese
wohltuende Ruhe unterbrechen müssen. Als ich gemütlich auf der Schüssel
hockte, hörte ich plötzlich wie die Tür aufsprang und jemand hereinkam. Er
benutzte die Kabine neben mir. Ich hörte einen kräftigen Strahl. Dann fing der
Kerl laut an zu singen. Na ja, er versuchte jedenfalls zu singen, aber es klang
eher so als ob jemand einen Elch auspeitschte. Irgendwie war mir unwohl. Als
er zu ende gepisst hatte, trat er zweimal kräftig gegen die Kabinentür. Ich zuckte
erschrocken zusammen. Endlich verschwand der Typ.
Ich kehrte ins Raucherzimmer zurück.
„Die haben gerade einen Wahnsinnigen eingeliefert.“ sagte Nadja.
Man hörte Schreie vom Flur rüber hallen, und der Pfleger sagte uns, dass wir
doch noch einen Moment warten sollten und ruhig noch eine rauchen könnten.
Der Kerl auf dem Flur war vollkommen außer Kontrolle.
Nadja und ich schlichen uns an die Ecke zum Flur, und sahen zu was da vor sich
ging.
Der Wahnsinnige war auf eine Bahre festgeschnallt worden. Er hatte ein
blutverschmiertes Gesicht.
„Ach du scheiße.“ brummte ich.
„Jetzt beruhigen Sie sich!“ versuchte eine Schwester ihn zu beschwichtigen.
„Lasst mich in Ruhe. Oder bringt mich am besten gleich um! So wie ihr es mit
meinem Vater gemacht habt, vor zwanzig Jahren.“
Er lallte, und heulte, und blutete. Dann wollte er losgeschnallt werden. Er fing
an die Wände zu bespucken, und das Blut lief ihm vom Gesicht und tränkte das
weiße Laken.
„Ihr habt meinem Vater seinen Ruf ruiniert! Wegen euch hat er sich
erschossen! Und jetzt macht mich los! Ich bringe euch alle um!
Ahhhhhhhhhhhhhhh!“
„Wenn der jetzt die ganze Nacht so schreit, kann ich kein Auge zu tun.“ sagte
Nadja. Wir setzten uns zurück an den Fernseher, und drehten Kippen.
„Die werden dem irgend ne Spritze verpassen. Die haben hier doch Mittel
gegen alles.“
„Und wenn er zu betrunken ist, um irgend ein Mittel zu kriegen?“
„Keine Ahnung, dann sollen sie ihn abknallen. Seinen Vater haben die doch
auch schon aufm Gewissen.“
„Ich muss da vorbei um auf mein Zimmer zu kommen. Ich will nicht dass der
mich anspuckt.“
„Wird er schon nicht. Der schläft gleich ein.“

Einen kurzen Moment war es still, dann fing er wieder zu schreien an.
„Ich will keine Spritze! Lasst mich gehen, oder ich bringe euch alle um! Seinen
Ruf ruiniert…Kugel…im Kopf…Ihr…“
Dann war Ruhe, und wir konnten auf unsere Zimmer gehen.
Als ich an ihm vorbei ging, schien er zufrieden, und fragte mich mit ruhiger
Stimme und einem Jack Nicholson-Lächeln, ob ich ihn nicht losschnallen
könnte.
„Gute Nacht, Nadja.“
„Gute Nacht.“

4. Entlassung

In dieser Nacht schlief ich tatsächlich gleich ein. Das Rivotril trug wohl seinen
Teil dazu bei.
Allerdings träumte ich recht intensiv.
Ich saß in einem Stuhlkreis mit lauter Fremden, und ein Dozent erzählte uns
irgendetwas. Plötzlich kam der Kerl auf dem Stuhl neben mir langsam mit dem
Kopf zu mir rüber. Ich dachte, er wolle mich etwas fragen, aber er fragte nichts,
sondern rückte mit dem Kopf näher und näher und drückte mich zunehmend
weiter zur Seite. Irgendwie rutschte ich vom Stuhl, über den Tisch, machte einen
geschickten (wenn wohl auch einen in der diesseitigen Realität unmöglichen)
Überschlag und landete auf den Beinen in der Mitte des Kreises.
Ich war überrascht, und da war der Kerl auch schon über den Tisch gesprungen,
und hatte eine große Schere zur Hand die er mir an die Eier hielt. Er hatte nicht
richtig zugedrückt, aber er gebrauchte die Schere wie eine Zange um mich in
Schach zu halten. Er sagte keinen Ton dabei oder darüber was, und warum er
das hier tat.
Mich überfiel die Panik, und endlich versuchte der Dozent den Irren zu
beruhigen. Aber der Griff der Schere lockerte sich nicht, sondern wurde stärker.
Ich versuchte vergeblich mich loszureißen, und am Ende fiel mir nichts besseres
ein, als ihm mit zwei Fingern in die Augen zu drücken. Als ich zudrückte, er
aber noch immer nicht von mir ablassen wollte, verstärkte ich den Druck, und
auf einmal bliesen sich seine Augen auf wie die eines Frosches. Ich drückte
immer mehr zu, und die Augen wurden größer und größer, und dann wachte ich
auf bevor sie geplatzt waren, weil Rothose mich weckte um meinen Blutdruck
zu messen.
„Danke Schwester, ich glaub du hast meine Eier gerettet.“
Rothose sah nur verwundert drein, und machte sich an meinem Arm zu schaffen.
„Der Blutdruck hat sich normalisiert. Puls ist auch wieder okay.“ sagte sie
schließlich.
„Na wunderbar.“ murmelte ich. Dann sah ich, dass Andre im Bett neben mir
lag. Also durchsuchte ich meine Sachen (zum Glück war noch alles da), zog
mich anschließend an und ging nachsehen was es zum Frühstück gab. Ich aß ein
Brötchen mit Käse, das ich mir in der Mikrowelle erhitzte, damit der Käse
zerlief wie die Uhren auf Dalis Bildern. Und ich aß das Brötchen während auch
meine Zeit langsam ablief, und Rothose kam irgendwann herein und sagte dass
ich gehen könne, wenn ich die letzten Zettel unterschrieben hatte.
„Für mich war es das dann wohl.“ sagte ich zu Nadja.
„Ja. Sieht ganz so aus.“
„Ich werde ne verdammte Story über all das hier schreiben. Ich gebe dir dann
das Manuskript wenn ich es hin kriege.“
„Das fände ich super.“
Ich ging nach vorne in den Glaskasten, bekam meinen Schlüssel und meine
Brieftasche und unterschrieb einige Formulare.
„Haben sie keine anderen Schuhe dabei?“ fragte ein Pfleger.
„Nein.“ Ich ersparte mir den Kommentar eines Philosophen der mir auf der
Zunge lag und in dem behauptet wurde, dass sich der Mensch durch das Tragen
von Schuhen von der Erde abgrenzt, ja sich sogar über sie hinauszuheben
scheint.
Ich bekam den Abschnitt einer Viererkarte für den Bus ausgehändigt.
„Dann brauchen sie nicht zu Fuß zu gehen.“
„Danke.“ Ich packte die Karte vorne in meine Geldbörse.
Dann zog ich meine Jacke an, und mir wurde vorne die Tür aufgeschlossen.
Ich umarmte Nadja zum Abschluss, sagte ihr, dass sie sich keine Sorgen machen
solle und dann fuhr ich mit dem Aufzug runter ins Foyer. Ich ging an der
Rezeption vorbei, und nach draußen.
Der Herbst hatte weiter anständig gearbeitet. Nasses Laub lag auf den
Gehwegen und eine frische Brise wehte um mich herum.
Ich hatte keine Lust mit dem Bus zu fahren, also lief ich durch den goldgelb,
rotbraun schimmernden Herbsttag. Die Blätter fielen weiter von den Bäumen,
und auf eine sonderbare Art und Weise kam es mir vor, als hätte ich soeben
einen längst überfälligen Urlaub beendet und war nun zurückgekehrt in die
Welt, in der ich selbst nachdenken musste, selbst meine Wäsche waschen und
mein Essen kochen musste. Eine Welt in der es Depression gab und
Schuldgefühle, und in der man Entscheidungen treffen musste die einem nicht
immer gefielen. Eine Welt in der man angreifbar, verletzbar und dem Sadismus
einer Gesellschaft hoffnungslos ausgeliefert war, die nicht auf Liebe erbaut ist,
sondern auf Egoismus.
Eine Welt voller Menschen die so sehr an Vertrauen verloren haben, dass sie nur
noch für die bloße Ablenkung existieren, und in der es mir vorkommt, als sei
jeder Atemzug ein ständiger Kampf ums Überleben, statt die erfrischende Luft
für die Erquickung der nach Leben – und nicht nur nach Überleben – schreienden
Seele.

Von Dan

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