Es fing an zu regnen.
Ich sah mir die Tropfen an, die auf der Leinwand zerplatzten, auf die Carlas Bild gespannt
war.
Carla lächelte. So wie sie meistens gelächelt hatte.
Vielleicht hätte man das Foto einrahmen sollen, dachte ich. Aber an Regen hatte wohl
niemand gedacht.
Grabrede.
Die gesprochenen Worte sickerten irgendwie in mein Ohr, und verschwommen dort
größtenteils unverstanden.
Unter den Trauernden waren bekannte Gesichter, und weniger Bekannte. Carla hatte eine
menge Menschen gekannt. Wesentlich mehr als ich jedenfalls.
In diesem Moment sahen wir alle gleich ratlos aus. Sinnlose Schatten unserer selbst,
entsetzt ob einer sinnloser gewordenen Welt.
Ich fummelte mit zitternder Hand eine Zigarette hervor und steckte sie in den Mund.
Gregors Ellbogen erwischte mich in die Seite.
„Hör auf mit der Scheiße, Mann.“ zischte er.
Ich nahm die Zigarette aus meinem Mund, und zerdrückte sie mit der Hand. Den Tabak
bröselte ich auf den Rasen. Nicht gewordene Asche, zu Asche, dachte ich.
Gregors Regenschirm öffnete sich über uns. Offensichtlich hatte immerhin er an alles
gedacht.
„Hattest du keinen in schwarz?“ flüsterte ich. Mit dem gelben Schirm über uns, hatte ich
das Gefühl die Blicke auf uns zu lenken. Welch selten dämliche, egoistische Gedanken. Ich
wischte unbemerkt eine Träne aus meinem Augenwinkel.
Dann sackte mein Kopf langsam gegen Gregors Schulter.
Nachdem was auch immer gesagt wurde, gesagt worden war, kamen die sechs Männer die
den Sarg in die Erde lassen würden. Von weit entfernt hörte ich Schluchzen.
„Ich hab keine Blume.“ flüsterte ich.
Die Jungs hoben den Sarg an.
Gregor klappte den Regenschirm zusammen. Der Regen hatte nachgelassen.
„Dann musst du halt die Schaufel mit der Erde benutzen.“ sagte er.
Einer der beiden Jungs in der Mitte zog die Holzlatten unter dem Sarg weg, und warf sie
auf den Rasen.
„Hast du nicht zwei Blumen?“
„Ich habe nur eine!“
Die Seile glitten geschmeidig durch die behandschuhten Hände, und der Sarg verschwand
langsam in dem rechteckigen Loch in der Erde, in dem eines Tages alles verschwindet.
Die Männer nahmen ihre Mützen vom Kopf, hielten sie mit gefalteten Händen vor sich,
verbeugten sich und gingen davon.
Die Seile ragten noch wie die sechs Arme eines überdimensionalen Kriechtiers aus dem
Grab. Für mich sah es aus, als wollte sich etwas daraus befreien.
Nach und nach gingen die Trauernden zur Grabstelle, und erwiesen ihren Respekt.
Blumen, Erde und salzige Tränen vermischten sich zu einer unzertrennbaren Einheit.
Es dauerte eine Ewigkeit, bis ich an der Reihe war.

Als es so weit war, hatten sich viele der Anwesenden bereits entfernt, und standen abseits
oder verstreut beieinander. Ich war unsicher auf den Beinen, und musste mich kurz gegen
den Ständer stützen, auf dem der Kasten mit Erde angebracht war, damit mir nicht schwarz
vor Augen wurde und ich in das Grab stürzte.
Ich sammelte mich, nahm eine handvoll Erde und rieselte sie über den Sarg.
Gregor, Huang und ich beschlossen zu Fuß zur Trauerfeier zu gehen, um ein wenig den
Kopf frei zu bekommen, aber vermutlich auch um die Gesellschaft der anderen zu
genießen, die man in letzter Zeit zu selten zu genießen im Stande gewesen war. Tick, Trick
und Track in einem unveröffentlichten schwarz-weiß Comic.
Wir krochen mutlos über den Stadtfriedhof. Vielleicht Göttingens schönster, und zugleich
schrecklichster Ort. Hoch gewachsene Tannen ragen gen Himmel, stumme Wächter von
majestätischem Anmut, die alte Wege säumen.
Gespenstischer Wind pfeift durch die Luft, und die verwinkelten Wege entlang, auf denen
es einfach ist sich zu verlaufen.
„Tja, das war ́s dann wohl.“ brummte Huang. „So eine verdammte Tragödie!“
„Sind ganz schön viele Leute da gewesen, oder?“ sagte Gregor und kickte einen Stein vor
sich her.
„Ich bin froh wenn bei meiner Beerdigung überhaupt wer da ist.“ knurrte ich.
Endlich zündete ich mir eine Zigarette an.
„Wie hast du ́s eigentlich erfahren, Don? Von Carlas Selbstmord mein ich.“ fragte Huang.
„Von Tom.“ sagte ich. „Ich war inna Stadt, wollte einkaufen. Da saß plötzlich Tom vorm
Supermarkt. Eine Flasche Schnaps in der Hand. Ein abgefahren surreales Bild der
Hoffnungslosigkeit.“
„Shit.“ sagte Gregor.
„Ich fragte was los ist. Tom hat lediglich gesagt: Carla ist tot! Ich ließ mich neben ihn
fallen. Keine Ahnung wie lange wir dann dort gesessen haben, während um uns herum die
Kunden zu ihren verdammten Weizenbroten und ihren Fruchtsäften drängten. Wir saßen
da, heulten und soffen Korn! Direkt vor der Eingangstür. N Wunder, dass uns die Bullen
nicht weggebracht haben.“
Gregor kickte den Stein rüber. Ich hielt ihn mit der Innenseite auf, und passte ihn rüber
auf Huang.
„Es tut gut das ihr da seit Jungs.“ sagte Huang. „Überhaupt, nach so langer Zeit. Wir
hatten echt wenig Kontakt.“
„Es sind immer die Katastrophen.“ sagte ich. „Anders kriegt ́s keiner hin.“
„Ach hör auf.“ murmelte Gregor. „Wir haben doch Kontakt!“
„Klar. Zu Weihnachten vielleicht. Wann hattet ihr Carla zuletzt gesehen?“
„Länger nicht.“ sagte Gregor.
„Na ja, ich hatte schon Kontakt mit Carla. Wegen meiner Freundin. Ist ja immerhin ihre
beste Freundin gewesen.“ sagte Huang.
„Gewesen!“ murmelte ich gedankenverloren. Der Stein der mich am Fuß traf, brachte
mich zurück in die Realität.
„Ich weiß noch.“ sagte ich. „Wir saßen alle auf m Wilhelmsplatz, wie wir ́s früher ständig
getan haben. Waren am Trinken und gut gelaunt. Und irgendwie hatte ich mich am
Schienbein verletzt. War keine besonders große Sache, ich hatte mit Sicherheit schon mehr
Blut gesehen, irgendwie. Na jedenfalls meinte Carla sie müsste mich unbedingt verarzten.“

Ein Träne quetschte sich über meine Netzhaut.
„Sie war schon ziemlich betrunken, aber offensichtlich wusste sie was sie tat. Sie hat
dieses Unkraut aus dem Gehweg gerissen, und auf meine Wunde geschmiert.
Breitrandwegerich! So nannte sie das! Hatte ich vorher noch nie von gehört. Ich dachte,
scheiße! Jetzt krieg ich bestimmt ne Blutvergiftung! Bekam ich aber nicht. Im Nachhinein
erscheint mir das, wie das romantischste, was je eine Frau für mich getan hat.“
Kurzes betroffenes Schweigen.
„Botanik war ihr Ding, irgendwie.“ sagte Gregor.
„Wisst ihr noch, die ganzen Kräuter, die sie auf ihrem Balkon angebaut hat? Hab mich
immer gefragt, woher sie die Zeit genommen hat, für das alles.“ schnaufte Huang. „Neben
dem Studium und der Musik, mein ich.“
„Der verdammte Bus mit dem ich zur Arbeit fahre“ sagte ich. „der fährt direkt an ihrer
alten Wohnung vorbei. Ich halte jedes mal den Kopf ans Fenster, um zu sehen, ob sie
gerade da oben an ihren Gewächsen herum zupft. Wer weiß wer da jetzt einzieht…“
„Vielleicht solltest du in Zukunft n anderen Weg zur Arbeit nehmen.“ sagte Gregor.
„Und einfach alles vergessen? Du weißt, das ist nicht mein Stil.“
„Du hast überhaupt keinen Stil!“
„Mag sein.“ Ich lockerte meine Krawatte, zog das Jackett aus und warf es mir über die
Schulter. Ich kickte den Stein rüber zu Gregor.
„Du hast den Stein, du hast das Wort!“
„Was macht das Filmgeschäft, Huang?“ fragte Gregor.
„Ich bin da an so ner Doku dran. Über n afrikanischen Marathonläufer. Könnte ganz
interessant werden.“
„Dokus, was? Ich bin gerade an nem Jan Vermeer dran.“ sagte Gregor.
„Was soll n das bedeuten?“ fragte ich.
„Ich male n Bild von meiner Freundin, im Stil von Jan Vermeer. Spiele mit Licht und
Schatten.“
„Verstehe. Ich hab ewig nix mehr geschrieben.“ zischte ich. „Vielleicht wird ́s Zeit mal
wieder n paar Gedichte hinzukritzeln. N mäßiger Chianti, mäßige Musik. Das geht
immer.“
„Was hörst n gerade so?“ fragte Huang.
„Ach, das übliche eben. Ich beweg mich im Kreis. Ihr wisst schon, da wo ich mich
auskenne, da fühl ́ ich mich wohl.“
„Du musst voran kommen.“ sagte Gregor. „Offen sein, für Neues.“
„Sagt der, der Vermeer kopiert!“
„Ich kopiere ihn nicht, ich huldige ihm!“
„Kannst mir jederzeit was schicken, Don.“ sagte Huang. „Ich hab deine niederen
geistigen Ergüsse immer mit Freuden gelesen. Aber geh ́ wieder mehr auf Stories. Die
haben n bisschen mehr Substanz, als deine Gedichte.“
„Hmh.“ brummte ich.
„Ich war neulich in Paris. Im Balzac Museum. Hab mir dort seine Kaffeekanne
angesehen. Die wichtigste aller Requisiten. Da musste ich daran denken, wie wir
Literweise Kaffee in uns reingeschüttet-, und an hochwertigen Drehbüchern gearbeitet
haben.“
„Hochwertig!“ lachte Gregor. „Ihr habt nie was zu Ende gebracht!“ Er passte den Stein
rüber auf Huang, der verfehlte die Direktabnahme und säbelte ins leere.

Wir erreichten das Tor des Stadtfriedhofs, und liefen die Hauptstraße entlang. Mittlerweile
hatten die Wolken sich verzogen, und ein wohlgesonnenes Gestirn tauchte uns in langsam
wärmer werdendes Licht. Unsere sich dahinschleppenden Körper warfen malerische
Schatten, als wir an Bushalte- und Baustellen vorbeizogen.
„Als Kind war ich ganz wild auf diese kleinen Bagger.“ sagte ich.
Ich zeigte auf den kleinen Bagger, der verlassen am Straßenrand neben einer Baustelle
stand. Ich warf Gregor mein Jackett zu, sah mich sporadisch um und sprang auf den
Bagger auf.
Ich spielte kurz an den Hebeln herum, machte merkwürdige Motorengeräusche, war für
kurze Zeit wieder zehn Jahre alt.
Gregor und Huang sahen mich ratlos an.
„Was denn?“ fragte ich.
„Komm da runter, bevor wir noch Stress mit der Mafia kriegen.“ brummte Gregor.
„Ja.“ sagte Huang. „Greg hat recht. Die kontrollieren das gesamte Baugewerbe.“
„Und wenn schon!“ Ich zog den Flachmann aus meiner Hosentasche, schraubte ihn auf
und trank einen ordentlichen Schluck.
„Ist es schon so weit?“ fragte Gregor. „Das du mit Flachmann unterwegs sein musst?“
„Geh mir nicht auf n Sack.“ zischte ich. Ich warf ihm das silbern blitzende Objekt zu,

wobei eine Lichtreflexion über Huangs Gesicht wischte. Ein ungewolltes John-Woo-
Zeitlupenszenario. Gregor fing ungelenk mit der freien Hand, trank seinerseits einen

Schluck, reichte an Huang weiter, der ebenfalls trank, zuschraubte und ihn zurückwarf. Ich
fing den Flachmann, stieß mit dem Bagger an und steckte ihn zurück in die Hosentasche.
Wir entkamen der Mafia, und erreichten schließlich die Stadt.
„Cafe-Botanik, was? Nie von gehört.“ sagte ich.
„Ich auch nicht.“ sagte Gregor. „Aber der Name passt doch perfekt.“
Wir bogen in eine kleine Seitenstraße hinter dem Wall, und konnten in der Ferne bereits
die dunkel gekleideten Gestalten herumlungern sehen, die draußen standen, sich
unterhielten und rauchten.
„Ah. Da seit ihr ja.“ sagte ein Kerl in Lederjacke, den ich nicht kannte.
Wir gingen die Stufen hinauf und ins Cafe ́Botanik.
Drinnen wuselten diverse Trauergäste herum. Einige lagen sich in den Armen, andere
unterhielten sich. Einige lachten sogar. Im Hintergrund dudelte leise klassische
Klaviermusik.
Es gab ein kaltes Buffet, und einen großen Topf mit Kürbissuppe. Wir holten uns Teller,
nahmen uns zu essen und setzten uns. Auf den Tischen stand Bier und Wein und Kaffee.
Immerhin das war nach meinem Geschmack.
Ich kam mir merkwürdig isoliert vor, vom Rest der Welt. Wären Gregor und Huang nicht
gewesen, ich wäre sofort nach Hause gegangen.
So goss ich mir ein großes Glas Rotwein ein, trank es zur Hälfte aus, schenkte nach und
versuchte die Suppe.
„Ich hab noch n Buch von Carla.“ sagte ich. „Hat sie mir ausgeliehen. Sollte ich
unbedingt lesen. Zwischen neun und neun. Von Perutz.“
„Und?“ sagte Huang. „Gutes Buch?“
„Bin noch nicht dazu gekommen es zu lesen.“ murmelte ich.
„Du solltest mehr lesen.“ sagte Gregor. „Ich hab mir selbst ne Reading Challenge
auferlegt.“

„Und das bedeutet?“ fragte Huang.
„Na ja. Ich hab zehn Überthemen, und zu jedem dieser Themen werde ich ein Buch lesen.
Zum Beispiel lese ich gerade ein Buch, das im Russland des 18. Jahrhunderts spielen
muss.“
„Wahnsinn!“ knurrte ich. „Wie wär ́s mit nem Buch in dem die Hauptfigur tot ist?“
„Jetzt hör schon auf…Ich weiß ja, jeder trauert auf seine Weise und so – ich hab den
Spruch übrigens nie leiden gekonnt – aber reiß dich verdammt noch mal ein bisschen
zusammen.“
Ich trank das Glas Wein aus, und schenkte nach.
„Was wir hier haben“ sagte ich „ist eine klassische Eddie-Guerrero-Situation.“
„Was soll n das heißen?“ fragte Huang.
„Eddie Guerrero! Der Wrestler, der mit nur 38 Jahren ums Leben kam. Der Erfinder der
Tres Amigos! Eine Kombination aus drei Suplexes, die zusammenhängend hintereinander
ausgeführt werden. Eddies Vermächtnis. Eine Aktion die Überlebt hat, und heute gerne von
anderen Wrestlern kopiert wird. Oder – wie du vielleicht sagen würdest Greg – eine
Huldigung anderer Wrestler an Eddie Guererro. Versteht ihr was ich meine? In unserer
Geschichte ist Carla Eddie Guerrero, und wir sind die Tres Amigos!“
„Um Himmelswillen!“ zischte Gregor. „Gib mir mal den Wein rüber. Deine permanenten
Wrestling Allegorien ertrag ́ ich nicht nüchtern.“
„Ich auch nicht.“ stöhnte Huang.
Unsere Gläser füllten sich.
„Auf Carla, James Joyce und die Toten!“ sagte ich.
Unsere Gläser stießen in der Mitte des Tischs zusammen, und der Wein floss in unsere
Kehlen, als wäre es gekühltes Wasser an einem gottverdammten, unerträglich heißen Tag
in Death Valley.
„Ziemlich depressive Musik hier!“ knurrte Huang. „Ich glaube kaum, dass das in Carlas
Sinne gewesen wäre!“
„Das kann man zwar hinterher so sagen…“ sagte Gregor jovial. „Die Wahrheit ist aber:
Wir haben keine Ahnung was in Carlas Sinne gewesen wäre!“
„Also wenn ich raten müsste“ sagte ich „ich glaube sie wäre jederzeit damit
einverstanden gewesen, dass wir uns sinnlos zulaufen lassen.“
„Auf jeden Fall.“ sagte Huang. „Wenn ich an unsere Jam Sessions denke…Mann, Carla
an der Geige, oder am Klavier! Das war schon was.“
„Yeah“ lachte ich „solange Greg die Gitarre liegengelassen hat!“
„Hey! Ich hatte damals meine Dylan-Phase!“ zischte Gregor.
Eine Bekannte von uns kam an den Tisch, umarmte jeden von uns kurz und fragte ob alles
soweit okay wäre.
„Es geht uns gut.“ sagte Huang. „Also, den Umständen entsprechend.“
„The Freewheelin ́ war nicht Dylans bestes Album.“ sagte Gregor, als unsere Bekannte
sich wieder anderen Gästen zugewendet hatte. „Highway 61 Revisited ist in sich
wesentlich schlüssiger!“ Er nickte zufrieden und trank einen Schluck Wein aus seinem
Glas, während er mit der freien Hand bereits nach der Flasche griff, die sich ihrem Ende
näherte.

„Ach scheiße!“ grummelte ich. Ich stand auf, schlich zu dem Tisch am hinteren Ende des
Raums und holte zwei neue Flaschen Wein von dem Vorrat, der üppig aufgefahren war. Ich
knallte die Flaschen vor uns auf den Tisch.
„Hat einer von euch n Korkenzieher dabei?“ fragte ich.
Gregor lachte wild. Seine Wangen waren gerötet.
„Ne Mann.“ sagte er. „Aber irgendwo gibt’s hier bestimmt einen.“
„Ich gehe mal nach einem suchen.“ sagte Huang und stand auf.
„Oder? Was meinst du?“ fragte Gregor.
„Was mein ́ich zu was?“
„Blowing in the Wind versaut die ganze Platte! N gottverdammter Schlager, das Teil!“
„Ja, weißt du…ich mag Blowing in the Wind eigentlich ganz gerne…“ gab ich zu.
„Ja. Weil du keine Ahnung hast! Wenn du morgens besoffen von irgendwelchen Disco
Besuchen bei mir geklingelt hast, wolltest du immer unbedingt Pearl Jam hören!“
„Ja. Oder Absolutely Sweet Marie! Als geheime leidenschaftliche Huldigung an deine
Schwester.“ verbesserte ich und nippte an meinem Wein.
„Blond on Blond!“ rief Gregor. „Ich glaube Track Zehn! Na das war immerhin
akzeptabel. Moment mal!“ Gregor sah mich scharf an.
„Bist du Weichkäse immer noch nicht über Marie hinweg? In tausend Leben wäre das nix
geworden!“ sagte er. „Du bist viel zu unreif.“
„Schon klar. Musst ́ich nur gerade dran denken. Egal. Was hat eigentlich Carla am
liebsten gehört?“ fragte ich.
„Ich weiß es nicht.“ sagte Gregor resignierend.
„Ich auch nicht.“
Einen kurzen Moment saßen wir ratlos da. Wie viel wusste man eigentlich wirklich über
manche seiner Freunde, fragte ich mich. Ich zündete mir eine Zigarette an. Huang kam mit
einem Korkenzieher zurück.
„Ich hab einen.“ sagte er, und machte sich direkt an einer der Flaschen zu schaffen.
„Wisst ihr was?“ sagte Huang. „John Woo hat mal gesagt, er packt eine Actionszene an
den Anfang eines Films, eine in die Mitte und eine ans Ende.“
Gregor und ich nickten.
„Klingt vernünftig.“ sagte ich.
„Absolut.“ pflichtete Gregor mir bei.
„Also, was haben wir hier?“ sagte Huang und goss nach. „Wir haben die Beerdigung, wir
haben die Trauerfeier, was dann? Was wird unsere dritte Actionszene?“
„Also erstens war nichts davon auch nur annähernd Action geladen!“ sagte Gregor.
„Zweitens bleibt am Ende nichts übrig, außer Leere.“ führte ich weiter.
„Genau.“ sagte Huang. „Es ist an uns, diese Leere mit etwas sinnvollem zu füllen.“
„Also ich fülle die Leere mit Wein!“ sagte Gregor. Für jemanden der nur selten trank,
hatte er einen enormen Durst entwickelt. Ich war geübter darin zu trinken, aber war
ebenfalls angeschlagen. Das paradoxe am trinken ist, dass man durstiger wird, je mehr
man trinkt. Und so tranken wir mehr.
Die Gäste um uns herum schienen zu verschwinden. Im eigentlichen Sinne der Worte, wie
auch im übertragenen. Wir waren in unserer Welt, abgeschottet vom Rest, und irgendwie
auch voneinander. Die Blase der Trauer blähte sich um uns auf, verschlang, zerkaute und
verdaute uns. Jeden auf eine andere Art.

„1995 war ein erbärmliches Jahr für ́s professionelle Wrestling!“ sagte ich als ich vom
kotzen zurück kam. „Da war nix! Kein vernünftiger Nachwuchs. Keine Storylines.“
„Scheiße wars!“ sagte Gregor. „1995 war generell ziemlich beschissen!“
„Okay…“ sagte Huang. „Und wieso genau?“
„Keine Ahnung.“ sagte Gregor.
„1995 ist Heat erschienen.“ sagte Huang. „Da kann man nicht davon sprechen das alles
scheiße war.“
„Stimmt.“ sagte ich, und zündete mir eine Zigarette an.
„Dienstmagd mit Milchkrug!“ schrie Gregor plötzlich wie aus dem Nichts, und schlug
mit der Faust auf den Tisch, dass die Teller hüpften. „Das ist n Bild, das wirklich was
aussagt! 1658-1660!“
Einige der Anwesenden hielten mit ihren Bewegungen inne, und sahen verschreckt und
angewidert zugleich zu uns herüber.
„Alles okay!“ rief Huang. „Unser Freund ist sehr sensibel was Jan Vermeer angeht.“
„Jan Vermeer!“ betonte Gregor nochmals mit Nachdruck.
„Komm runter!“ zischte Huang. „Die gucken schon alle…“
„Man kann sagen was man will.“ sagte ich, und rückte die Teller wieder zurecht. „Erst
mit dem King of the Ring 1996 ging ́s wieder langsam bergauf mit der damaligen WWF.
Ich meine, die Geburtsstunde von Austin 3:16! Das war ein entscheidender Punkt! Die
WCW hatte aufgerüstet. War dabei die Nummer Eins zu werden. Vince hatte Glück, dass
Austin ihm den Arsch gerettet hat.“
„Vielleicht sollten wir langsam verschwinden.“ sagte Huang. „N bisschen spazieren
gehen oder so. Die frische Luft wird uns gut tun.“
„Die Impressionisten! Die haben die frische Luft noch zu schätzen gewusst.“ sagte
Gregor. „Ich bin dabei.“ Plötzlich versteinerte sich sein Gesicht. Dann begann er
beängstigend zu grinsen.
„Moment mal!“ flüsterte er.
„Was ist denn?“ fragte ich.
„Da hinten steht doch eine Gitarre!“ Gregor zeigte in die hintere Ecke des Raums. Huang
und ich folgten seinem ausgestrecktem Zeigefinger.
„Ich halte das für keine besonders…“ ich brach mitten im Satz ab.
Gregor war aufgestanden, und steuerte zielsicher auf die Akustikgitarre zu. Er teilte die
Anwesenden, wie Moses das rote Meer. Er würde uns ins gelobte Land führen.
„Wir müssen ihn aufhalten!“ rief ich.
„Quatsch! Wieso denn?“ sagte Huang. „Lass ihn machen. Wenn ihm nach Gitarre spielen
ist, lass ihn spielen.“
„Aber die anderen Gäste…“ Ich kippte mein Glas runter und schenkte nach.
Gregor hatte die Gitarre erreicht. Ich rutschte auf meinem Stuhl weiter nach hinten.
„Yeah!“ rief Huang. „Hau ma einen raus Greg!“
Ich hörte zwei Mädchen hinter uns flüstern:
„Oh Nein! Greg hat die Gitarre!“
Ich drehte mich um und vermittelte ihnen mit dem Zeigefinger vorm Mund doch bitte ihre
elenden Fressen zu halten.
„Mal kurz Ruhe bitte!“ rief Gregor. Das Gemurmel verstummte augenblicklich.
„Ich würde gerne ein kleines Lied spielen.“ sagte er. „Für Carla!“
Verhaltene Zustimmung machte sich breit.

„Spiel was von Barclay James Harvest!“ rief Jemand sinnfrei.
Gregor räusperte sich, zupfte ein paar mal an den Saiten herum, war offensichtlich
unzufrieden mit dem akustischen Ergebnis, drehte an den Flügelmuttern zum Stimmen
herum, zupfte erneut, schien zufrieden und legte los.
Die nächsten drei Minuten hörten wir einen recht eigentümlichen Blues Song, mit etlichen
deplatzierten Tönen in Klang und Gesang. Was man auch von dem Stück halten mochte,
an Emotionen fehlte es nicht. Gerade als wir dachten, alles wäre überstanden, legte Gregor
richtig los. Wie ein wahnsinniger drosch er auf die Gitarre ein. Gemurmel entstand im
Raum. Nach einiger Zeit gingen zwei langhaarige Burschen auf Gregor zu. Einer war
blond, einer dunkelhaarig. Beide ziemlich groß gewachsen und bedrohlich wirkend. Ich
sah Huang an. Wir standen auf.
Die Langhaarigen griffen nach der Gitarre. Gregor schubste den Blonden weg. Raunen.
„Hey!“ rief ich. „Nimm deine Wichsgriffel von meinem Freund!“ Ich zog den
Dunkelhaarigen nach hinten, und sah ihn scharf an.
„Wir wollen doch keinen Ärger.“ sagte der Blonde. „Aber dein Freund ist ganz schön
betrunken.“
„Das ist eine Trauerfeier du Weißbrot!“ fuhr Huang den Kerl an. „Natürlich ist er
betrunken.“
„Und wer bist du?“ fragte der blonde Kerl. „Die schmächtige Version von Jet Li?“
„Ich? Ich bin der Typ der dir gleich die Gitarre in deinen Hippie Arsch schiebt!“ knurrte
Huang. Ich konnte sehen wie er sich seitlich positionierte. Ich kannte diese Stellung. Wenn
nicht alles komplett eskalieren sollte, musste ich verhindern das Huang dem Kerl einen
Roundhouse verpasste.
„Schon gut.“ sagte ich. „Vielleicht sollten wir alle…“
„Ich mach ́ dich fertig mit Boxen!“ rief Gregor plötzlich dem dunkelhaarigen Kerl zu, der
mittlerweile die Gitarre in seinen Händen hielt.
Ich versuchte den anstürmenden Gregor festzuhalten. Er riss mich um, und wir landeten
auf dem harten Steinfußboden.
„Vollidioten!“ rief der dunkelhaarige Typ.
Huang erwischte ihn mit einem kompromisslosen Sidekick. Der Bursche stürzte nach
hinten über einen Tisch, den er beim Aufprall komplett mit der Gitarre abräumte.
„Hey!“ rief der Blonde. „Was soll die Scheiße?“
„Der hat gesessen!“ zischte Huang, während Gregor und ich uns ungelenk aufrappelten.
Der blonde Kerl wich langsam zurück. Von weiter hinten flüsterten Gäste Begriffe wie
Unmöglich, Sauerei, Betrunken, Polizei. Was auch immer sie noch gesagt haben mochten,
für uns war es Zeit zu gehen. Wir stützten Gregor in der Mitte zwischen uns, und
schleppten uns Richtung Ausgang.
„Ihr Arschlöcher!“ rief der dunkelhaarige Typ plötzlich, während er hinter dem Tisch
hervor kam, über den er geflogen war. „Ihr habt wohl überhaupt keinen Anstand!“ Er
wischte sich mit der Hand über den Mund, und wollte hinter uns her.
Huang riss den Feuerlöscher aus der Wandhalterung, und hielt ihn auf den augenscheinlich
Rachsüchtigen gerichtet.
„Mach lieber nichts unüberlegtes.“ sagte er. „Oder ich verwandle diese Bude hier in eine
Schneekugel!“
Der dunkelhaarige blieb stehen. Huang ließ den Feuerlöscher fallen. Wir schafften es aus
der Tür.

„Arschlöcher!“ zischte Gregor, als wir die Treppe runter waren. „Die haben Glück das ihr
mich rausgebracht habt. Die hätt ́ich alle gemacht.“
„Wissen wir doch…“
Als die Dämmerung anbrach, hatten wir längst den Leinekanal erreicht. Wir saßen auf der
Mauer die an dem kleinen Fluss entlangführte, und ließen die Flasche Jack Daniels
rumgehen, die wir am Kiosk erstanden hatten.
Ein leichter Wind wirbelte die rosa-weißen Blüten eines Baums um uns herum, so das es
wirkte als säßen wir mitten in einem Schneesturm. Ab und zu flatterten einige Tauben an
uns vorbei, oder liefen die Mauer entlang, auf der Suche nach Brotkrumen oder Hoffnung,
oder was auch immer.
So saßen wir da, schwiegen und warteten das es Nacht wurde.
„Wann fahrt ihr wieder nach Hause?“ fragte ich irgendwann.
„Morgen früh.“ sagte Huang.
Gregor band seine Krawatte zu einem Stirnband.
„Dann haben wir noch die Reise ans Ende der Nacht vor uns.“ sagte er. „Fällt dir nicht
irgend n dämlicher Wrestling Bezug ein, Don?“
„Eigentlich nicht.“ sagte ich.
Ich fummelte in meiner Hosentasche, fand einen Keks und bröselte ihn auf die Mauer.
Eine Taube näherte sich gurrend.
„Kubrick hatte vor Napoleon zu drehen.“ sagte Huang. „Mit Jack Nicholson in der
Hauptrolle.“
„Ach ja?“ zischte Gregor.
„Sollte n ziemlich großes Projekt werden. Stan hatte Karteikarten angelegt, für jeden
verdammten Moment aus Napoleons Leben. Orte, Lichtverhältnisse, Witterung, einfach
alles.“
„Klingt nach ner ziemlichen Zeitverschwendung.“ murmelte ich.
Ich zündete mir die letzte verblieben Zigarette an, zerdrückte die Schachtel und warf sie in
den Mülleimer gegenüber.
„Vanitas-Symbole sind ziemlich starke Motive in der Malerei.“ sagte Gregor. „Überhaupt
hat doch alles Vergängliche irgendwie etwas Tragisches.“
„Hulkamania will live forever, Brother!“ sagte ich.
Wir sahen zu wie die Taube zufrieden die Kekskrumen fraß, und dann Richtung Vollmond
davon flog.

Von Dan

2 Gedanken zu „Tres Amigos“
  1. Dennoch: Tut doch bei jedem Fluge
    Eins nur wirklich not:
    Die Seele sei im Leben frei
    Und mutig auch im Tod.

    R. Cala. R. Mahr

    1. An des dunklen Meeres Strand
      Streif ich allein umher
      Ihre klagend Stimme tönt ins Land
      In trübe Dämmerung dahin

      Jenseits des stillen Himmels Grenzen
      Bewegen zittrende Welten sich
      Sie werden in der Höhe glänzen
      Auf ewig unveränderlich

      Bevor doch eines Mondes Schein
      Silbern die Wogen spannt
      Wird mir der Ozean ein Grab sein
      Mein Lager – Meeressand

      Mein unseliger Name soll dann
      Immer vergessen sein
      Kalt wie Wachs, das brav gerann
      Erloschen wie der Flamme Schein.

      R.C. – Für das Haus –

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